Übersetzung des letzten Kapitels The Invisible Center
Es wird die Zeit kommen, da die Zunge sich dem Herzen zugesellt,
das Herz sich der Seele zugesellt,
die Seele sich dem Geheimnis (sirr) zugesellt,
und das Geheimnis sich der Wahrheit (Haqq) zugesellt.
Das Herz sagt dann zur Zunge: „Bleib still!"
Das Geheimnis sagt dann zur Seele: „Bleib still!"
Und das innere Licht sagt dann zum Geheimnis: „Bleib still!"
—Al-Ansārī
DER KREIS DER GANZHEIT
Betreten wir den Pfad, treten wir in den Kreis unserer Ganzheit. In den ersten Jahren auf dem Pfad vollzieht sich eine wunderbare Heilung, indem die widersprüchlichen Aspekte unseres Selbst, vom Kreis unserer Ganzheit gehalten, zusammenkommen. Wir dürfen auf tiefste und vollständigste Weise wir selber sein. Wie umfassend diese Akzeptanz ist, lässt sich gar nicht genug betonen, denn sie ist vollständig. In dem Kreis des Selbst bleibt nichts ausgeschlossen, alles wird als Teil des Ganzen anerkannt, als notwendige Note in der Symphonie unseres wahren Seins.
Als ich das erste Mal an die Tür meiner Lehrerin kam, fühlte ich dieses Angenommensein, und zum ersten Mal in meinem Leben wusste ich, dass ich erkannt wurde und sein durfte. Die Art dieses Angenommenseins war so grundlegend, dass ich es in meinem Denken erst viel später erfasst habe: Das Wissen zeigte sich als das Gefühl, nach Hause zu kommen, als eine so tiefe Entspannung, für die es keinen Vergleich gab. Wochen, ja Monate saß ich in tiefem Erstaunen und dem unbewussten Gewahrsein, dass es keine inneren Grenzen, keine Einschränkungen, kein Zurückhalten gab. Die Erkenntnis, dass ich bedingungslos um meiner selbst willen angenommen wurde, war so revolutionär und zugleich so notwendig. Jahre später konnte ich diese einfache Wahrheit an eine Frau weitergeben, die zu unserer Gruppe kam: „Versuche nicht, dich einzupassen. Hier darfst du du selbst sein."
Wir schränken uns in unserem Leben so sehr ein, begrenzen uns, schieben uns in Ecken und schneiden uns in gesellschaftlich akzeptierte Stücke zurecht. Eine Sufi-Gruppe basiert auf Einheit, und die grundlegende Eigenschaft dieser Einheit ist, dass alles Teil Seiner heiligen Ganzheit ist—es gibt nichts anderes als Ihn. Dies wird in der Geschichte über den großen Sufi Jāmī veranschaulicht, der, als er trunken von Gott nach der Sperrstunde durch die Gassen ging, von einem wachthabenden Offizier ergriffen wurde. Der Offizier fragte ihn naiv, ob er ein Dieb sei, und Jāmī antwortete: „Was bin ich nicht?"
Kommen wir zum Pfad, betreten wir diese heilige Ganzheit in der Seine Einheit geehrt und gelebt wird. Sufis sind die „Leute des Geheimnisses", weil sie Sein Geheimnis kennen und leben: die Einheit von Liebendem und Geliebten, eine Einheit, die alles in der Schöpfung einschließt und doch nicht Seine transzendente Natur leugnet. Es gibt da diese Qualität von Bewusstsein, welche die Einheit in allem Leben sieht und sie als Widerspiegelung Seiner Einheit erkennt. Im Spiegel der Schöpfung erhaschen wir die Schönheit Seines Gesichts: „Wo immer du dich hinwendest, da ist das Antlitz von Allāh". Und zugleich wissen wir im Herzen, dass dies nur eine Reflektion Seiner unerkennbaren, unerreichbaren Essenz ist.
Die Einheit im Innersten des Pfades heilt den Reisenden, macht ihn ganz. Es ist ein Wunder, zu beobachten, wie Reisende, die vom Leben verwundet und von ihrem wahren Selbst abgeschnitten sind, langsam erlöst werden. Ich habe das in mir selbst erfahren, wie ein kaputter Mensch, der am Rande eines Nervenzusammenbruchs schwebte, ins Leben zurückgebracht wurde. Ich kam als verletzter Vogel, und meine Flügel wurden geheilt, und ich konnte dann die Aufrichtigkeit und das einfache Wunder leben, ein Mensch zu sein. Über die Jahre habe ich das bei anderen verfolgen können, wie ihnen ihre Würde zurückgegeben wurde und sie allmählich die Integrität ihrer angeborenen Natur spüren konnten. Dann fühlt sich das Leben nicht länger als Misston an, als Abfolge von Konflikten, sondern ist in Harmonie mit etwas Größerem.
Wie sich dieser Prozess vollzieht, trägt die unerklärliche Qualität eines jeden Wunders in sich. Es wird als Geschenk gegeben, denn unser wahres Selbst ist wie der Sonnenschein kostenlos und unser Geburtsrecht. Ich erinnere mich noch deutlich daran, wie ich die simple Erkenntnis hatte: „Ich darf ich selber sein und mich selbst leben." Und damit einher kam das Verständnis, dass es in der Welt für jeden von uns als unser wahres Selbst einen Platz gibt. Wir müssen uns nicht in Stücke zerteilen, um in die Welt zu passen. ER hat uns alle nach Seinem Willen erschaffen: Wir sind im Bilde Gottes gemacht und tragen eine einzigartige Prägung Seines Wesens in uns. Und da dies hier Seine Welt ist, muss es für jeden von uns einen Ort geben, an dem wir unser wahres Selbst leben können. Diese Offenbarung löste eine derartige Freude in mir aus, dass ich wusste, sie gehört zum Leben selbst. Sie brachte eine Freiheit und ein Gefühl der Ausdehnung mit sich, das mich tagelang beschwingt sein ließ.
ABSTIEG IN DIE DUNKELHEIT
Für diese Reise in die Ganzheit muss natürlich ein Preis bezahlt werden. Eines der Paradoxe auf dem Pfad ist, dass wir, auch wenn die spirituellen Dinge als Geschenk gegeben werden, mit unserem Blut und unseren Tränen bezahlen müssen, damit wir sie empfangen können. Wir müssen zerrissen werden, auf dass wir ganz gemacht werden. Die ersten Jahre auf dem Pfad bringen sowohl Konflikte wie auch Heilung mit sich. Man nimmt uns auf einen Abstieg in die Dunkelheit des Unbewussten, in die Wunden unserer Schattenbereiche. Irina Tweedie beschreibt die Intensität ihrer Erfahrungen mit ihrem Lehrer und wie es nicht das war, was sie erwartet hatte:
„Ich hatte gehofft, in Yoga unterwiesen zu werden, und erwartet, wunderbare Dinge zu hören. Doch was stattdessen geschah, war, dass mein Lehrer mich hauptsächlich dazu zwang, mich mit der Dunkelheit in mir auseinander zu setzen, und das brachte mich fast um."
Traditionell ist die Dunkelheit der Ort unserer Wiedergeburt. In unserem Unbewussten finden wir all die nicht akzeptierten Aspekte unserer Psyche, die integriert werden müssen, wenn wir unsere wiederentdeckte Ganzheit leben wollen. Psychologisch gesehen beginnt das für gewöhnlich mit der Konfrontation mit unserem Schatten, dem dunklen, verleugneten Teil von uns, voller unangenehmer und uneingestandener Gefühle wie auch ungelebtem Potenzial. Die Konfrontation mit dem Schatten ist Schwerstarbeit und erfordert Geduld, Ausdauer und Integrität, weil wir gezwungen werden zu akzeptieren, dass wir nicht die Person sind, für die wir uns gehalten haben, sondern einen dunklen Zwilling in uns tragen. Zorn, Grausamkeit, Bitterkeit, Gier und eine Menge anderer verachteter Eigenschaften kommen zum Vorschein und brauchen Liebe und Annahme. Wir fühlen dann auch den Schmerz der abgelehnten Teile in uns und die Wunden, die sie in sich tragen.
Der Pfad gibt uns unsere Ganzheit zurück, aber wir müssen daran arbeiten, alles zu integrieren. An uns ist es, die Kraft zu finden, unsere Dunkelheit ans Licht zu bringen und ihren ungelebten Schmerz zu erleiden. In diesem Prozess erfahren wir, wie unser Ich gebrochen und von den machtvollen Kräften des Unbewussten neu gestaltet wird. Die Gegensätze in uns attackieren einander und ringen um Dominanz, und so erfahren wir die Qual, die es mit sich bringt, kein oberflächliches Leben mehr zu führen.
Nur indem wir unsere Fehler und Schwächen akzeptieren, können wir mit ihnen umgehen, weil dann die Macht des Schattens durch Bewusstheit und Liebe im Zaum gehalten wird. Die Macht unseres Schattens liegt darin, dass er uns ohne unser Wissen beherrscht, wenn wir plötzlich in destruktive Wut ausbrechen oder uns in passiver Aggression zurückziehen. C.G. Jung hat klug bemerkt: „Sie haben keinen Schatten, aber der Schatten hat Sie."
Wenn uns die Schattenarbeit wieder mit den abgelehnten Teilen in uns verbindet, erfahren wir eine Zunahme an Energie und Potenzial. In den Tiefen eingeschlossene Gefühle dürfen in unser Leben kommen und bringen ein stärkeres und umfassenderes Empfinden für unsere Natur mit sich und ein Freisetzen der Energie, die wir gebraucht haben, diese Eigenschaften in unserem inneren Keller oder Verlies wegzuschließen. In unseren Träumen verbinden wir uns mit inneren Gestalten, die uns zuvor bedrohlich erschienen, wir teilen Mahlzeiten mit ihnen, verlieben uns vielleicht sogar in sie. Oft wird diese innere Arbeit durch Bilder von Müll Ausräumen veranschaulicht, befreien wir uns doch von innerem Abfall, den wir angesammelt, ja sogar von unseren Eltern und Großeltern geerbt haben. Je mehr inneren Raum wir haben, desto mehr kann sich unser Leben weiten, und zwar innerlich wie äußerlich. Schrittweise geben wir uns mehr Raum und entdecken ungelebtes Potenzial. Wenn sich das Gefühl für unser Selbst ausdehnt, entdecken wir in unseren Träumen, dass das Haus unserer Psyche mehr Zimmer hat, sogar ganze Stockwerke, von denen wir nichts wussten und die darauf warten, bewohnt zu werden.
Akzeptieren wir unsere Dunkelheit, bekommt unser Ich mehr Gleichgewicht und Integrität, die oft fehlen, wenn man nur seine bewusste Identität kennt. Wird das Licht durch die Dunkelheit ausgeglichen, wandelt sich das Gefühl der Spaltung unseres Selbst in ein tiefes Wohlbefinden und eine Vollständigkeit. Wir hören auf, uns voller Angst vor den inneren Dämonen in der Festung unseres Bewusstseins zu isolieren. Wir sind nicht länger gejagte Überlebende oder gequälte Opfer unserer Kindheitstraumata. Und wir fangen an, das Leben aus der Perspektive von jemand zu sehen, der die Unterwelt aufgesucht hat: Vorurteile und Wertungen fallen weg, wenn wir die dunkle Seite unseres Wesens kennen gelernt haben. Wir sind nicht länger vom begrenzten Horizont unseres Ich-Bewusstseins eingeengt und können uns den unendlichen Möglichkeiten des Lebens öffnen. Das Leben beginnt sich in seiner Fülle zu offenbaren, sobald wir die sich widersprechenden Eigenschaften anerkennen, die uns vollständig werden lassen.
Der Pfad konstelliert unsere Ganzheit und gibt uns einen Geschmack unserer wahren Natur. Die Jahre harter und schmerzhafter innerer Arbeit ermöglichen es uns, diese Ganzheit zu leben. Viele der Wunden, mit denen wir zum Pfad kamen, sind durch eine tiefe Transformation geheilt. Wir werden durch unsere eigene Arbeit und durch die Gnade, die uns geschenkt wird, geheilt. Es ist ein Wunder, diese Erlösung zu erleben und zurückblickend mit Ehrfurcht und Dankbarkeit zu erkennen, dass so viele Wunden geheilt sind, so viele quälende Probleme sich aufgelöst haben. Die Veränderung ist oft so tief und grundlegend, dass kaum noch Spuren der Traumata, die unser Leben beherrschten, übrig geblieben sind, und wir die Person, die wir waren, fast vergessen können. Kürzlich habe ich versucht, mir die Gefühle zu vergegenwärtigen, die ich hatte, als ich zum Pfad kam, und ich habe gemerkt, wie schwer es ist, die Zeit zu erinnern, bevor die Liebe da war, und wie es sich mit meinem fragmentierten und isolierten Ich anfühlte, das meinen Alltag bestimmte. Mir war nur klar, dass ich mich bis zur Unkenntlichkeit verändert und Erfahrungen des Lebens bekommen habe, die ich nicht für möglich gehalten hatte. Ich habe die wahre Freude, lebendig zu sein, geschmeckt.
DIE PRÄGUNG IM HERZEN
Denen, die nach Ihm suchen, wird eine besondere Gnade gegeben. Wenn wir zu Ihm schauen, ziehen wir Sein Licht an, auch in der Dunkelheit unserer Verwirrung und Zerbrochenheit. Dieses Licht ist die Kraft, die uns heilt, die uns nach Seiner uns innewohnenden Prägung neu erschafft. Diese Prägung ist ins Herz gestanzt und wird von der Energie des Pfades, der Kraft der Liebe, aktiviert. Je mehr wir zu Ihm schauen, je mehr wir uns für unseren Geliebten öffnen, desto stärker wird diese Prägung mit dem Licht Seiner Liebe entflammt. Ansārī von Herāt, ein Sufi aus dem 11. Jahrhundert, beschreibt, wie diese Prägung unserer Herzensfreundschaft mit Ihm die Lampe unseres göttlichen Bewusstseins wird:
Der Weg, die Freundschaft zu finden, ist, die Welt und das Jenseits ins Meer zu schleudern.
Das Zeichen für die Verwirklichung der Freundschaft ist, sich um nichts zu kümmern, was nicht Gott ist.
Der Beginn der Freundschaft ist, die Prägung zu haben;
Das Ende ist, eine Lampe zu haben.
Unsere Freundschaft mit Ihm, Den wir lieben, ist ein im Herzen verborgenes Geheimnis. Dieses Geheimnis ist das verborgene Gesicht des Mystikers, eines Menschen, der schon vor seiner Geburt zu Gott gehört hat. Das Werk des Pfades besteht darin, den inneren Raum zu reinigen und zu läutern, in dem das Geheimnis, sirr, ins Bewusstsein gebracht werden kann. Wir müssen eine bestimmte Qualität von Bewusstsein ins Leben bringen, die den Glanz Seines Lichts ertragen kann, ein Bewusstsein, das rein genug ist, Seine Liebe zu bezeugen. Den Sufis nach gehört sirr zu den innersten Nischen des Herzens, und genau hier findet die wirkliche mystische Erfahrung statt, nämlich dann, wenn die Liebende das Wesen ihrer Freundschaft mit ihrem Geliebten erfährt.
Doch dieser Ort der Begegnung ist so geheim, dass das Alltagsbewusstsein der Reisenden keinen Zugang dazu hat. Das Bewusstsein, das Seine Gegenwart bezeugt, ist das Höhere Bewusstsein des SELBST. Das Ich ist von dem Mysterium von Licht über Licht, das sich in unserem Herzen vollzieht, ausgeschlossen. Während also die innere Arbeit mit dem Unbewussten unser Selbstgefühl ausdehnt und unser Bewusstsein vertieft, scheint uns der wahre mystische Prozess auszuschließen, uns ohne Kenntnis von dem zu lassen, was in unserem Herzen geschieht. Manchmal schwingen wir uns in Momenten der Ekstase und Verwirrung auf unser Höheres Bewusstsein ein und dürfen etwas von dem Wunder, das in uns geschieht, erhaschen, doch es können Tage vergehen, an denen es nur das Gefühl der Leere gibt, ja sogar der Kälte, da sich die wahre Liebesgeschichte des Herzens woanders zuträgt. Außerdem ist das Zusammenkommen von Liebendem und Geliebten in der Tat ein Prozess der Absorption, da die innerste, geheimste Substanz des Liebenden in Seinem grenzenlosen Meer aufgelöst wird. Durch die innere Arbeit fanden wir uns, entdeckten wir unsere eigentliche Natur. Jetzt beginnen wir uns selbst zu verlieren.
SEIN ERINNERN SEINER SELBST
Über viele Jahre haben wir den Pfad mit unserem Ringen und der inneren Arbeit identifiziert. Diese Arbeit brachte Ergebnisse, den Lohn der Individuation und das Gefühl für unsere Ganzheit. Uns ist es gelungen, in Teilen unseren Schatten zu transformieren und dann eine gute Beziehung zu unserem inneren Partner herzustellen, dem Gott oder der Göttin, die wir zuerst auf jemand anderen projiziert und später in uns selbst entdeckt haben. Unser innerer Partner hat Kraft und Kreativität in unser Leben gebracht und eine liebevolle Umarmung in unsere Träume. Wir haben auch ein Gefühl für unsere Mitte entwickelt und durch Gebet und Meditation Frieden gefunden und eine innere Kommunion, die auf Hingebung gegründet ist.
Diese Qualitäten, die wir entwickeln, sind wichtige Trittsteine. Sie führen uns auf dem Pfad entlang zum Kern unseres Seins. Aber sie bereiten uns nicht auf die Erkenntnis vor, dass die wirkliche mystische Beziehung, die ja im Herzen geschieht, sich nicht zwischen uns und unserem Geliebten zuträgt. Wir sind höchstens gelegentliche Zuschauer, wie der folgende Traum deutlich aufzeigt:
Ich ging den Pfad entlang, den ich jeden Morgen mit meinem Hund gehe. Ich war gerade an der Stelle vorbei, wo er den Bach kreuzt, als ich Mohammed auf dem Pfad auf mich zukommen sah. Ich sah, dass Mohammed mit einer Praxis beschäftigt war: Während er auf dem Pfad ging und den Namen Gottes sagte, musste er immer dann, wenn eine besondere Süße in Seinem Erinnern war, ein paar Schritte hinter dieser Stelle einen Bienenstock aufstellen. Ich sah ihn einen Topf mit Honig auf den Pfad werfen, und ich wusste, das geschah, um die Stelle für den Bienenstock zu markieren, und ich wusste, Sein Name war, unmittelbar bevor er in mein Blickfeld trat, mit besonderer Süße gekommen. Ich wusste auch, dass dieser neue Bienenstock der sechste in dieser Gegend gleich hinter dem Bach, eine Art sanfte Mulde am Hang, sein würde.
In diesem Traum stellt der Prophet Mohammed das innerste Selbst der Träumerin dar, das Wesen in ihrem Herzen, das für ewig mit Seinem Erinnern befasst ist. Diese geheime Substanz im Herzen schaut immer zu Gott und ist in ständiger Kommunion mit Ihm. Das ist der Kern des mystischen Pfades, denn der Sufi sagt, nicht du oder ich ist der wirkliche Wanderer auf dem Pfad, nicht der wahre Liebende, sondern eine Substanz im Herz der Herzen.
Auf ihrem morgendlichen Gang trifft die Träumerin auf ihr geheimes SELBST, das auf sie zukommt. Aber Mohammed ist nicht an der Träumerin interessiert; er ist mit seiner Praxis beschäftigt, Seinen Namen zu wiederholen. Es ist immer eine verblüffende Erkenntnis zu merken, dass es auf dem Pfad nicht um uns geht, ja, dass wir in vielerlei Weise nebensächlich sind. Eine der Gefahren der spirituellen Arbeit ist, dass wir uns so sehr mit unserer Arbeit an uns selbst, unserem Ringen und unserem Fortschritt identifizieren, dass wir vergessen, dass die eigentliche spirituelle Aktivität Sein Erinnern Seiner Selbst ist, welche tief im Herzen stattfindet. Anfangs war die Träumerin sogar etwas irritiert, auf ihrem alltäglichen Spaziergang gestört zu werden, bis ihr der Charakter dieser Begegnung deutlich wurde.
Sie war Zeugin Seines Erinnerns Seiner Selbst und sah, dass, wann immer dieses Erinnern eine bestimmte Süße hatte, etwas zurückgelassen wurde, um diese Stelle zu kennzeichnen. Ein Bienenstock wird errichtet, damit andere die Süße Seines Erinnerns kennenlernen und schmecken können. Seine Liebenden bringen eine Erinnerung Seiner Süße in die Welt, die Süße des Gotterinnerns. Alles andere ist zweitrangig—was wir für unsere spirituelle Praxis halten, für unseren Pfad, bringt uns lediglich zu der Stelle, wo wir Seine Arbeit bezeugen und Mohammed begegnen können, wie er den Pfad jenseits des Baches entlanggeht.
UNSERE FEHLER VERGESSEN
Allmählich wechselt der Fokus unserer Reise von der inneren Arbeit des „Polierens des Herzensspiegels" zur Einfachheit einer Lebensführung aus einem Herzen, das Gott angehört. Die Anfangsjahre des Polierens sind notwendig, damit wir die wahre Natur des Herzens erkennen, einen flüchtigen Eindruck bekommen, wie es Sein Licht in die Welt spiegeln kann. Doch langsam schwindet der Antrieb, der uns nach innen gezogen und gezwungen hat, uns unseren Dämonen zu stellen und uns für die Liebe zu öffnen. Die Qual und die Intensität unseres ursprünglichen Strebens scheinen nicht mehr da zu sein. Wir haben wohl gelernt, ein einigermaßen ausgeglichenes Leben zu führen, den Verstand in der Meditation ruhig zu halten (wenigstens gelegentlich!) und der dhikr ist hoffentlich die Grundlage unserer täglichen Praxis geworden. Doch mehr und mehr sind wir uns selbst überlassen und Seinem verborgenen Geheimnis.
Das Ich scheint sich nicht mehr zu verändern oder zu entwickeln. Obwohl wir einige unserer Schattenaspekte integriert haben, finden wir weiterhin noch ein paar Neurosen und Ängste vor. Wir können weiter Konflikte in unseren Beziehungen haben, Schwierigkeiten in unserem Beruf. Wir sind keine „perfekte spirituelle Person" geworden, sondern ein ganz normaler Mensch, und das kann sehr enttäuschend sein. Die westliche spirituelle Konditionierung suggeriert ein Bild spiritueller Perfektion und bereitet uns nicht auf unser gewöhnliches Selbst vor. Die Zen-Weisheit vom „Holz hacken und Wasser tragen" ist viel realistischer und gibt uns die Freiheit, ein alltägliches Leben zu führen.
Die psychologische Arbeit hört nie auf—es braucht immer eine innere Haushaltsführung, und unsere Träume und Reaktionen können uns dabei helfen, unseren Schatten und tägliche psychologische Veränderungen bewusst zu machen. Doch mehr und mehr müssen wir lernen, mit unseren Unzulänglichkeiten und Problemen zu leben. Zu viel Aufmerksamkeit auf die innere Arbeit kann kontraproduktiv und zu ego-orientiert sein. Es geht dabei um eine feine Balance, denn andererseits kann unser Schatten uns leicht davon überzeugen, dass wir uns darum überhaupt nicht kümmern müssen. Der Reisende weiß jedoch, dass es nicht der Zweck der Reise ist, vollkommen zu werden, denn nur Er allein ist vollkommen, sondern Sein Diener zu werden. Wenn unsere Unzulänglichkeiten unsere Arbeit als Sein Diener nicht beeinträchtigen, warum sollten wir versuchen, sie zu ändern?
In Sarrāj's Buch: Book of Flashes wird diese Verlagerung weg von uns selbst in den Stufen der Reue erläutert. Die Arbeit am Schatten kann mit der ersten Stufe der Reue gleichgesetzt werden, die Sahl, ein früher Sufi aus dem Irak, als „Vergiss nie deine Fehler" beschreibt. Uns unserer Fehler bewusst zu werden ist ähnlich, wie sich mit der Dunkelheit in uns zu konfrontieren, mit dem Unterschied, dass die Schattenarbeit verlangt, dass wir unsere Dunkelheit annehmen statt uns von ihr abzuwenden und zum Licht hinzugehen. Aber die nächste Stufe der Reue, wie sie von al-Junayd, dem großen Sufi aus dem 10. Jahrhundert, dargelegt wird, lautet: „Vergiss deine Fehler", denn wenn das Herz so mit dem Gotterinnern befasst ist, gibt es gar kein Interesse für Reue. Weder unser Ich noch unsere Fehler sind von Bedeutung. Der Liebende wendet sich von allem ab außer von Ihm. Sarrāj zitiert an-Nūrī, der, zur Reue befragt, sagte: „Das heißt, sich von allem abzuwenden, außer von Gott dem Allerhöchsten."
Am Anfang des Pfades muss sich die Reisende mit ihren Fehlern befassen, was ihr eine für den Weg notwendige Selbsteinsicht, Stärke, Stabilität und Reinheit verschafft. Aber wenn sie erst einmal von der Gegenwart ihres Geliebten umarmt wird, wendet sie sich von allem ab, was zu ihr gehört. Sie weiß, alles, was zählt, ist ihr Geliebter, und ihre Aufmerksamkeit sollte nur noch bei Ihm bleiben. Alle Ausrichtung auf uns selbst ist ein Hindernis. Al-Ansārī warnt in seiner Ausführung über Reue davor, unserem spirituellen Zustand zu viel Aufmerksamkeit zu geben. Und als Dhū-l-Nūn über Reue befragt wurde, sagte er: „Die Menge bereut ihre Fehler. Die Erwählten bereuen ihre Nachlässigkeit. Während der Anfänger sich von Fehlern und schlechten Handlungen abwendet, muss der Erwählte sich von allem, was zu ihm gehört, abwenden, sogar von „guten und frommen Taten". Sarraj zitiert Dhū-l-Nūn:
Was Lauterkeit für den Suchenden oder Anfänger ist, ist Selbstdarstellung für die Wissenden. Wenn der Wissende beständig und selbstverwirklicht in dem geworden ist, durch das er nah zu Gott Allerhöchst und Transzendent gelangt ist—im Beginn seiner Suche, in seinem Anfangsstadium, sind es die hingebungsvollen Bemühungen und frommen Taten—wenn er umgeben ist von den Lichtern der Führung, wenn die Vorsehung ihn berührt hat, wenn er umfangen ist von göttlicher Fürsorge, wenn sein Herz Zeuge der Majestät seines Meisters ist, wenn er kontempliert, was Gott gestaltet hat und die Ewigkeit Seiner Güte, dann wendet er sich davon ab, seine frommen Taten, Handlungen und Gaben zu beachten, auf sie zu bauen und sie zu pflegen, wie er es als Sucher und Anfänger getan hat.
Es kann schwierig sein zu erkennen, dass gerade die Qualitäten und die Haltung, die uns auf eine bestimmte Stufe gebracht haben, zurückgelassen werden müssen, sobald dieses Stadium vorbei ist. Die innere Arbeit, das Achten auf unsere Fehler und Schattenqualitäten sind solch ein wichtiger Teil unserer ersten Jahre auf dem Pfad. Sie sind das Werkzeug, das Seil und der Pickel, die uns beim Aufstieg auf den Berg geholfen haben. Diese Hilfsmittel zurückzulassen und in die Verletzlichkeit des nächsten Stadiums zu treten, in dem wir nur noch zu Ihm schauen, kann sich anfühlen, als würden wir unserem Sehnen und unserer Verpflichtung zum Pfad untreu werden. Die Fähigkeiten hinzugeben, die uns geholfen haben, heil und ganz zu werden, verlangt großes Vertrauen und Glaube.
FANA
Jeder Schritt über das Ich hinaus kann tiefe Unruhe und Angst auslösen. Wir hoffen auf etwas Greifbares, auf eine konkrete Erfahrung, die uns die nötige Versicherung gibt, um die Eigenschaften hinter uns zu lassen, mit deren Hilfe wir unseren steilen und fordernden Aufstieg begonnen haben. Doch der Pfad gibt einem selten das, was man erwartet. Der Pfad führt über das Ego, über uns selbst, hinaus. Aber wohin? Und was bekommen wir von diesem Umbruch mit? Oft nur sehr wenig oder gar nichts. Während wir den Pfad gehen, versieht uns das Leben weiterhin mit den Schwierigkeiten, durch die wir lernen können, und den Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen. Mehr und mehr jedoch wird unsere innere Aufmerksamkeit anderswo absorbiert, ein Anderswo, so unterschiedlich, dass es nur einen kleinen Rest in unserem Alltagsbewusstsein zurücklässt. Das äußere Leben kann sehr nüchtern, sogar langweilig werden, und unser Innenleben entbehrt wahrscheinlich der psychologischen Dramen, die uns in der Zeit der intensiven inneren Arbeit begleitet haben. Das Ego und der Verstand, die immer nach Stimulation suchen, wissen nicht, was sie mit dieser Veränderung anfangen sollen. Und da in unserer Kultur die Idee von Fortschritt so zentral ist und uns ein Ziel gibt, sogar ein „spirituelles Ziel", fühlen wir uns ohne sichtbaren Fortschritt womöglich unterminiert. Viele Jahre lang haben wir hart an uns selbst gearbeitet und uns verändert. Jetzt scheinen wir auf einmal mit unseren alten ungelösten Problemen da zu sitzen.
Und noch verstörender ist der Umstand, dass unsere Vorstellung von uns als spirituellem Sucher untergraben wird. Wenn wir nicht vorankommen, wenn wir uns nicht verändern, wie gehen wir dann auf dem Pfad weiter? An uns selbst zu arbeiten, war eine fassbare Beschäftigung, im Erinnern versunken zu sein, hinterlässt wenig Spuren. Die Wahrheit, dass es auf dem Pfad nicht um uns geht, dass wir nicht die Reisenden sind, steht allen Erwartungen und spirituellen Konditionierungen so entgegen, dass wir an unserem alten Bild vom spirituellen Fortschritt festhalten und uns dann leicht als Versager fühlen können.
Das Ego, dessen Gefühl für die eigene Wirklichkeit auf der Illusion basiert, zu existieren, kann die Tatsache nicht fassen, dass es auf dem Pfad um fanā geht, darum, nichts zu werden. Der Einfluss des Ego auf das Bewusstsein ist so mächtig, dass wir auch nach Jahren des Meditierens nicht in der Lage sind, diese wichtigste mystische Wahrheit zu verarbeiten. Wir haben wohl über die Vernichtung gehört, aber wie uns ein Glas Wein nicht betrunken macht, indem wir es anschauen, so kann uns das Nachdenken über fanā niemals auf die Erfahrung vorbereiten, nichts zu sein. Die Erfahrung von fanā ist verstörend. Wer oder was ist verloren gegangen? Wer oder was bleibt übrig? Wie können wir da sein, wo wir nicht existieren?
Allmählich werden wir aufgelöst, allmählich sind wir immer weniger wichtig. Welche Bedeutung hat es, ob wir Probleme oder Unsicherheiten haben oder Ängste? Weshalb sollten sie behoben werden? Wir sind einfach nur ein Mensch wie jeder andere, außer dass in unserem Herz der Herzen ein Geheimnis offenbart und eine Süße geteilt wird. Müssen wir weiter mit uns selbst ringen und versuchen, all unsere Schwierigkeiten aufzulösen? Oft ist es einfacher zu lernen, mit dem zu leben, was wir sind, und unsere Alltäglichkeit zu akzeptieren. Mitten in diesem Menschsein entfaltet sich das Wunder von „ich bin Er, Den ich liebe, und Er, Den ich liebe, ist ich" ungehindert, und in dieser Liebe geht das, was wir als zentralen Teil von uns gehalten haben, verloren.
Die Vorstellung, dass fanā den Tod des Ego bedeutet, ist ein Missverständnis. Es gibt Momente der Ekstase, in denen die Geliebte in der Gegenwart ihres Geliebten vergeht. Wir kehren von diesen Augenblicken berauscht und verwirrt zurück und wissen nur, dass wir irgendwo verloren waren, dass etwas genommen und etwas gegeben worden ist. Doch dann kehren wir zu einem Ich zurück, das immer noch existiert. Das ist das Selbst, das wir in unserem Alltag bewohnen. Al-Junayd sagt, fanā ist nicht das Sterben unseres ganzen Wesens in Gottes Sein, sondern das Sterben unseres Willens in Gottes Willen. Das Ich bleibt, aber es hat sich Ihm hingegeben.
Wir brauchen ein Ich, um in der Welt funktionieren zu können, und doch dürsten wir nach den Momenten, in denen wir verloren gegangen, aufgelöst sind. Wir spüren, dass uns irgendwo eine Trunkenheit erwartet, und unsere täglichen Pflichten erscheinen uns nur öde. Aber wenn wir Ihm in Seiner Welt dienen sollen, müssen wir das Ego mit all seinen Begrenzungen akzeptieren, auch wenn wir für einen kurzen Moment seine illusorische Natur erkannt haben. Wir dürfen auch nicht an diesen Momenten wirklichen Erwachens, in denen wir nicht sind, anhaften. Die folgende Traum-Erfahrung erzählt von der Notwendigkeit, mit unserem täglichen, ans Ego gebundenen Leben fortzufahren:
Als ich am Ende eines Meditationstreffens wegging, kam ein Mann, ein einfacher und schöner Russe, angerannt und versuchte einen Strauß Rosen in mein Auto zu werfen. Einige landeten im Auto und andere fielen auf die Straße und wurden zerdrückt. Dann blieb er schlagartig stehen, und es sah aus, als sei Gott über ihn gekommen. Er war selig, in Ekstase, er hatte ein breites Lächeln in seinem Gesicht und war völlig „weg". Über seinem Kopf zeigte sich, wie eine Kuppel, ein orangefarbenes Glühen, und er begann zu verschwinden, sich zu verflüchtigen. Es fing bei seinen Fußsohlen an, und es schien, als würde er von dieser Kuppel orangenen Lichts aufgesogen. Dann war er fort. Offenbar geschah das öfter, auch dass er wiederkam, aber man wusste nicht, wann. Ich war da und wartete auf seine Wiederkehr. Dann erzählte ich das meinem Lehrer, und er sagte: „Nein, nein, das tun wir nicht." Zuerst dachte ich, er meinte das Verschwinden, doch dann hatte ich das Gefühl, er meinte unser Warten auf die Wiederkehr des Mannes und meine Faszination über sein Verschwinden.
Dieser Traum zeigt das Wunder von fanā auf, das Auflösen in Gott. Der Russe, der Rosen in das Auto der Träumerin warf, ist ausgelöscht worden, ist in der Ekstase der Vereinigung verschwunden. Al-Junayd beschreibt drei Stufen von fanā. Die erste ist die Freiheit, im äußeren Leben nicht länger nach den eigenen Wünschen handeln zu müssen. Die zweite Stufe von fanā ist die Freiheit, nicht länger nach den Freuden des inneren Lebens zu streben, „auch nicht nach dem Wohlempfinden, Gottes Geheiß zu befolgen—so dass man ausschließlich Ihm gehört." Was auf diesen beiden Stufen zerstört wird, ist die Herrschaft des Ego über den Reisenden; wir sind nicht länger die Sklaven seiner Verlangen und somit fähig, uns vollständiger unserem Geliebten hinzugeben. Doch Junayd's dritte Stufe von fanā ist die Auslöschung des Bewusstseins, wenn die Anbetende selbst ganz und gar von Gott überwältigt wird. „Auf dieser Stufe ist man vernichtet und hat ewiges Leben in Gott … Das physische Leben besteht weiter, aber die Individualität ist gestorben." Mit einem Lächeln im Gesicht hat sich der Russe in Gott aufgelöst.
Dieser Traum veranschaulicht auch eines der verwirrendsten Paradoxe auf dem Pfad. Der Russe, der einen Teil der Träumerin darstellt, ist in Seligkeit aufgelöst, aber die Träumerin selbst wird zurückgelassen und ihr wird gesagt, sie solle weder auf seine Rückkehr warten noch fasziniert von seinem Verschwinden sein. Sie muss mit ihrem alltäglichen Leben fortfahren, losgelöst von dem Wunder, das sich in ihr vollzieht. Junayd beschreibt, wie man nach dem Zustand von fanā in den Zustand der Nüchternheit zurückkehrt.
Er ist er selbst, nachdem er nicht wirklich er selbst gewesen ist. Er ist in sich selbst und in Gott gegenwärtig, nachdem er in Gott gegenwärtig gewesen ist und in sich selbst abwesend. Der Grund dafür ist, dass er die Trunkenheit von Gottes überwältigendem ghalaba (Sieg) verlassen hat und zur Klarheit der Nüchternheit gelangt … Abermals nimmt er seine individuellen Attribute an.
Liest man al-Junayd, vermutet man, dass auf der dritten Stufe von fanā das Bewusstsein der Liebenden völlig in ihrem Geliebten aufgelöst ist und sie dann von diesem Zustand der göttlichen Trunkenheit zu sich und einem Zustand der Nüchternheit zurückkehrt. Manchmal stimmt das, und man erfährt den völligen Selbstverlust. Man kehrt dann ins Bewusstsein zurück und weiß nur, dass man in die Gegenwart des Geliebten genommen und trunken gemacht wurde. Aber die Erfahrung der Träumerin, die zusieht, wie der Russe sich in Seligkeit auflöst, zeigt, dass fanā komplexer sein kann; ein Teil ist ausgelöscht, während zugleich ein anderer Teil bleibt. Man ist sowohl abwesend wie auch gleichzeitig anwesend, also beides: in Gott verloren und in den Ich-Grenzen, trunken und nüchtern.
Ist man total aufgelöst, kann man nicht in der äußeren Welt funktionieren—es gibt dann kein individuelles Bewusstsein. Dieser Zustand von völligem fanā ist deshalb für gewöhnlich auf die Zeiten der Meditation oder die Nacht beschränkt. In dem Zustand der Abwesenheit und gleichzeitigen Anwesenheit kann man jedoch in der äußeren Welt funktionieren. Tatsächlich muss man lernen, mit der Klarheit des Losgelöstseins von seinem inneren Zustand zu leben, wie der Traum rät. Der Träumerin wird gesagt, weder vom Verschwinden des Mannes fasziniert zu sein noch auf seine Wiederkehr zu warten. Man lernt, in einem Zustand der Nüchternheit innerhalb des Ich zu bleiben, während ein innerer Teil von einem im Licht verloren gegangen ist.
Nur im Zustand der Nüchternheit und innerhalb des begrenzten Bewusstseins des individuellen Selbst kann man der Gemeinschaft dienen. Und die Sufis sind bekannt als die „Sklaven des Einen und Diener der Vielen". Wir sind hier, um in Seiner Welt zu arbeiten und um Seinetwillen unsere täglichen Aufgaben zu erfüllen. Aus diesem Grund haben al-Junayd und andere Sufis die Notwendigkeit der Nüchternheit nach den Zuständen der Trunkenheit betont. Es wird sogar gesagt, dass die Stufe der Dienerschaft nach der Stufe der Vereinigung kommt. Doch Junayd bestätigt, dass es eine ständige Strapaze für einen selbst bedeutet, gleichzeitig anwesend und abwesend zu sein. Er beschreibt in einem kurzen Gedicht, wie diese beiden Gegensätze von Trennung und Vereinigung nebeneinander existieren:
Ich habe das erkannt, was in mir ist.
Und meine Zunge war im Geheimen im Gespräch mit Dir.
Und wir sind vereint—in einer Hinsicht,
Aber wir sind getrennt—in einer anderen.
Auch wenn Ehrfurcht Dich vor den Blicken meiner Augen verborgen hält,
macht die Ekstase Dich meinem Allerinnersten intim.
Der Zustand der Nüchternheit wird manchmal von den Mystikern als die „Zweite Trennung" beschrieben, und das ist der Pfad, den die Reisende geht, nämlich in einem Ich-Selbst zu leben, das sie als begrenzt und illusionär erfahren hat. In der
„Ersten Trennung" war die Sehnsucht nach Vereinigung und das Bedürfnis, frei vom Ego zu sein. Hat man fanā erfahren, muss man das Ich wieder annehmen, ein Ich-Selbst, das sich verändert hat und doch das alte ist. Fanā ist die Auflösung, die Vernichtung des Willens der Liebenden in den Willen des Geliebten, damit es uns möglich wird, unsere Rolle als Diener zu erfüllen. Um Sein Diener in Seiner Welt sein zu können, müssen wir im Ich bleiben, mit dem zusätzlichen Schmerz zu wissen, dass wir woanders frei sind, woanders mit unserem Geliebten zusammen sind, und doch bewusst in einem Zustand der Begrenzung und Trennung zu leben haben. Al-Junayd sagt, man braucht eine besondere Gnade, diesen Zustand gleichzeitiger Anwesenheit und Abwesenheit zu ertragen.
DAS NICHTS UND DAS ICH
In den ersten Jahren auf dem Pfad wird das Ich-Bewusstsein des Reisenden ausgeglichener und vollständiger. Indem wir uns mit unserer Dunkelheit auseinandersetzen, kommen wir zu unserer eigenen Kraft und können diese nutzen, unsere Verlangen zu beherrschen und den größeren Jihād gegen unsere niedere Natur zu kämpfen. Und in der Erfahrung der Freiheit, die in der Selbstbeherrschung liegt, sind wir fähig, ein reicheres Leben zu führen. Wir sind dann nicht mehr in der Dunkelheit unseres Schattens oder den Fesseln unserer persönlichen Wünsche gefangen. Unser Bewusstsein und die Freiheit, am Leben teilzuhaben, erweitern sich, und wir beginnen den wirklichen Sinn zu fühlen, der im Unbewussten verborgen ist. Wir erfahren in der Meditation, in den Träumen und manchmal auch im Wachzustand die Schönheit und Majestät unseres unsichtbaren Geliebten; wir berühren den Saum Seines Gewandes.
Diese Jahre lassen sich mit al-Junayd's ersten zwei Stufen von fanā in Verbindung bringen und sind eine Zeit lohnenden Kampfes gegen das Ego und seinen dunklen Zwilling. Doch allmählich ahnt der Reisende, dass die wahre Reise, das wahre Zusammentreffen woanders stattfindet. Dann beginnen die Erfahrungen des Verlorenseins, des Verlassenseins, eines Abgrunds, der so tief ist, dass man nirgendwo einen Halt findet. Manchmal reagiert das Ich mit Entsetzen, wenn es einen kurzen Einblick in die Unermesslichkeit dieser Leere bekommt, in eine Landschaft, von der es weiß, dass es dort keine Erfüllung finden wird. Die Angst des Ich ist berechtigt. Alles bisher ist nur eine Vorbereitung auf diesen nächsten Schritt gewesen: in die wirkliche fanā des Nichts. Die folgende Traum-Erfahrung gibt der Träumerin das erste Erkennen dieses Zustands:
Nach der Meditation hatte ich mich für ein Nickerchen hingelegt und träumte, dass ich in einem Raum voller Leute von der Gruppe war. Der Lehrer betritt den Raum, und es ist, als würde er immer wieder den Raum betreten, und dann tritt er in mich ein und geht in mir durch mich hindurch. Ich habe Angst. Dann erinnere ich mich, dass ich doch in meinem Bett liege und ein Schläfchen mache, und ich denke, dass dies alles nicht wirklich sein kann, dass ich träume. Aber an diesem Punkt weiß ich mit Gewissheit, dass ich nicht im Bett liege, sondern an dem Ort bin, wo er in mich „eingetreten" ist. Ich bin so schockiert, dass ich nicht in meinem Bett bin, dass es sich anfühlt, als würde ich fallen—es ist wie ein „freier Fall", und anstatt zu landen, merke ich, dass ich ohnmächtig werde und das Bewusstsein verliere. Danach ist nur Schwärze, und ich erinnere nichts mehr.
Dieser Traum ist tatsächlich kein Traum, sondern eine Erfahrung dessen, was jenseits des Ich ist. Die Träumerin ist an einem Ort, wo der Lehrer in sie eintritt, in der Dimension der Seele, wo das wahre Treffen von Lehrer und Schüler stattfindet. Sich bewusst, dass es kein Traum ist, wird sie über sich selbst hinaus und in die Schwärze genommen, aus der keine Kunde zurückkommt. Das ist der Beginn der wahren mystischen Reise, dieser Reise in die ungeschaffene Leere, in der Seine Geheimnisse Ihm Selbst offenbart werden. Nur dort, in dem Nichts jenseits unseres Ich, bekommen wir einen Geschmack unserer wahren Natur, unserer ungeschaffenen Essenz, „was wir waren, bevor wir waren".
Aus dieser anderen Dimension zurückgekehrt, wissen wir, dass wir nicht sind, und das hat eine starke Auswirkung auf unser Ich. Die innere Struktur und Autonomie des Ich kann derart durcheinander gebracht werden, dass die Reisende, wäre sie nicht durch jahrelange Meditation und spirituelle Praxis vorbereitet und von der Energie des Pfades gehalten, verrückt werden könnte. Und selbst dann müssen wir uns an diese fundamentale Veränderung, die sich auf unser ganzes Selbstgefühl auswirkt, anpassen. Wir müssen in unserem Ego unseren Alltag leben, aber mehr und mehr sind wir uns seiner illusionären Natur bewusst. Wir erkennen, dass wir nicht sind, so wie wir merken, dass wir in einer Welt der Illusion leben. Dieser Wechsel in der Selbst-Wahrnehmung geschieht für gewöhnlich an den Grenzen des Bewusstseins—die Ich-Struktur wird von innen her untergraben—und wir sind dann nicht direkt mit der Absolutheit dieses Umbruchs konfrontiert. Wir begreifen nur, dass das Ego nicht länger die dominierende Kraft in unserem Leben und seine Erfüllung nicht mehr unser ursprünglicher Antrieb ist.
Langsam erhalten wir ein wenig Einblick, dass das Ich nur ein Schauspieler auf einer kleinen Bühne ist, und wir erleben den riesigen Raum, der die Bühne umgibt. Unsere Jahre der Individuation haben dem Ich ermöglicht, seine Rolle voll auszuspielen, einen Auftritt im Leben zu haben. Doch jetzt erkennen wir die Begrenzungen dieser Bühne, die Enge unserer Ich-Welt. Ihre Farben sind höchstens matt, außer in den Momenten, wenn das Jenseits hineingespiegelt wird und wir Sein Gesicht in dieser Welt sehen. Nur gelegentlich bekommen wir einen Geschmack des Wirklichen.
Jeder wird auf seine eigene Weise über das Ich hinausgenommen, und wir lernen dann, uns an ein Leben anzupassen, in dem unser „Ich" nicht mehr die zentrale Gestalt ist. Es findet eine subtile Veränderung statt, weg von den klar umrissenen Abgrenzungen unseres bewussten Lebens in einen eigenartig unbestimmbaren Zustand. Ohne die Gegensätze von Subjekt und Objekt, von „Ich und Nicht-Ich" kann dieses neue Gewahrsein verwirrend wie auch wundervoll sein. Etwas ist gegeben worden; eine Öffnung in das Mysterium Seiner Gegenwart wurde geschaffen. Während ich diesen Abschnitt verfasse, erreicht mich der Brief eines Freundes, der bewegend beschreibt, wie dieser Übergang in ihm geschieht.
Weniger als je zuvor weiß ich, wer ich bin, was ich tue, wohin ich gehe etc. Häufig gibt es die Male, dass ich gebeten werde, eine Antwort zu geben oder eine Entscheidung zu treffen, aber das alte „Ich" ist nicht da, um eine Antwort zu finden. In diesen Augenblicken bekomme ich einen kurzen Schreck, weil ich keine Antwort habe. Es ist, als hätte ich ausgeatmet und bin nicht sicher, ob der darauf folgende Einatem durch Das Andere gewährt wird. Fast immer ist nach einer kurzen Pause die Antwort da! Bei den Gelegenheiten, wo sich keine Antwort zeigt, habe ich mir angewöhnt zu sagen: „Ich weiß es nicht." Manchmal bekomme ich deshalb Angst, aber die meiste Zeit tue ich das, wozu es mich drängt (oder es geschieht einfach), während ich versuche, so viel ich kann, den Geliebten zu erinnern. Ist damit gemeint, einer Seiner Idioten zu sein?
Immer stärker bin ich weder gut noch schlecht, sondern fühle nur, ich bin einfach. Das hat sich für mich als schwer herausgestellt, weil ich mein ganzes Leben danach gestrebt habe, gut zu sein. Es ist, als hätte ich mein Leben lang Weiß geliebt und Schwarz verabscheut, müsste jetzt aber Grau akzeptieren, das nicht diese offensichtliche Brillanz von Weiß hat. Doch Grau hat, wie ich entdeckt habe, eine verborgene Tiefe, die es wesentlich wertvoller macht als Weiß. Ich sehe, wie all die Gegensätze sich konstellieren, ein Zentrum zu bilden, eine Auflösung. In diesem Zentrum gibt es eine verborgene Tür, die aus dem Paradox herausführt. In eben diesem Zentrum findet sich Sein Funke, Seine Unendlichkeit. Wie wenn man in eine riesige Spirale hineinschaut, offenbart sich die Unendlichkeit erst, wenn man direkt ins Zentrum sieht.
Vor einigen Monaten hatte ich eine wunderbare sanfte Erfahrung von Klarheit in meinem Herzen. Ich nannte das „die Klarheit" und sie lebte in meinem Herzen. Ich betrachtete sie und nährte sie, während sie blieb. Das war wunderschön. Wie alle meine Zustände hielt auch dieser nicht lange an. Ich ließ ihn los und ein weiterer folgte, aber bei weitem nicht so zart oder wohltuend. Ich schrieb dann auf: "Da ist eine Klarheit im Innern. Sie ist nicht ich, aber sie ist auch nicht von mir unterschieden. Sie gehört essenziell zu mir, aber sie ist ohne Farbe, ohne Geschmack oder Stil, wie es eine Persönlichkeit hat. Sie ist wie reines Wasser im Vergleich zu einem anderen Getränk, das Farbe oder Geschmack hat: Sie ist klar.
Unser Leben lang sind wir die Akteure gewesen. Wir haben immer noch eine Rolle, die wir spielen, und Pflichten, die wir erfüllen müssen. Doch allmählich wird etwas anderes lebendig, das „nicht-ich", aber auch nicht von mir unterschieden ist. Dieses essenzielle Selbst gehört nicht zu den Beschränkungen dieser Welt und auch nicht zu ihren Definitionen; anders als eine Persönlichkeit ist es „ohne Farbe, ohne Geschmack oder Stil". Eine der Charakteristika von fanā ist die Rückkehr zu dieser essenziellen Reinheit eines Selbst ohne Abgrenzung. Das ist das unsichtbare Zentrum unseres Seins, das einer anderen Dimension angehört, einer Einheit ohne die Unterscheidungen der Trennung.
In der Dimension jenseits der Bühne, in der dynamischen Dunkelheit, die uns umfängt, gibt es keinen Schauspieler, kein Ich-Gefühl, auf das der Scheinwerfer des Bewusstseins fällt. Ohne den Schauspieler gibt es keine Worte zu hören, keine Geschichte zu erzählen, nur das überwältigende Gefühl von etwas Ursprünglichem und Machtvollem. Hier ist die ungeschaffene Leere, grenzenlos und ewig. Und der Reisende muss mit dem erwachenden Bewusstsein dieses anderen Reichs leben - ein Bewusstsein, in dem man nicht ist: „Es gibt keinen Derwisch, oder wenn es einen Derwisch gibt, dann ist er nicht da."
Schließlich muss das Ich sich dem Unvermeidlichen stellen und es akzeptieren. Ich habe einmal einen ganzen Sommer damit zugebracht, mich auf die Tatsache einzustellen, dass ich wusste, „ich" existiere nicht. Das klingt nach einem seltsamen Paradox, aber ich erlebte, wie mein Ich sich mit dem schwarzen Loch arrangierte, das jetzt in seinem Zentrum war. Ich muss noch immer eine Rolle in meinem Leben spielen, meinen Part auf der kleinen Bühne des alltäglichen Daseins, aber mein Ich muss das Wissen um seine Nicht-Existenz halten. Das war eine sehr verwirrende und verstörende Periode, als ich erlebte, wie mein Ich kämpfte und langsam mit seiner illusionären Natur klar kam. Das Ich passte sich an, der Zustand endete und das Leben ging weiter. Das Wunder dieses Pfades ist, dass er uns auf diese Übergänge vorbereitet und uns Schritt für Schritt hindurchführt. Das mystische Leben mag voller Widersprüche sein, aber das erscheint nur dem Verstand so. Der Pfad bringt uns näher zur essenziellen Einfachheit von dem, was ist, und bietet uns die enorme Freiheit, unsere eigene Nicht-Existenz zu erfahren. Und unser alltägliches Leben geht weiter. Mein Freund schrieb am Ende seines Briefs:
Mehr und mehr gibt es keine Antworten. Ich bin einfach nur dankbar für diese Momente, wenn Er mich besucht und die zartesten Stellen tief in meinem Herzen sowohl zum Schmerzen bringt wie auch in die Seligkeit schickt. Die Tränen, die in diesen Augenblicken fließen, fühlen sich so unendlich süß an.
(Dies ist die deutsche Übersetzung des letzten Kapitels „The Invisible Center" aus dem Buch The Circle of Love von Llewellyn Vaughan-Lee, Inverness 1999, The Golden Sufi Center Publishing)