Übersetzung des englischen Artikels Dhikr as an Archetype of Transformation
Ich bin der Gefährte dessen, der Meiner gedenkt.
~hadîth qudsî
Sein größter Name
Der Dhikr ist die Wiederholung eines heiligen Wortes oder eines heiligen Satzes. Es kann die Shahâda Lâ ilâha illâh’llâh sein, doch oft ist es einer der Namen oder Eigenschaften Gottes. Man sagt, Gott habe 99 Namen, aber der wichtigste unter ihnen sei Allâh. Allâh ist Sein größter Name und enthält all Seine göttlichen Eigenschaften.
Als Abû Sa’îd ibn Abî’l-Khayr den Vers aus dem Koran hörte „Sprich Allâh! Alsdann lass sie sich an ihrem Geschwätz weiter vergnügen.“(1), öffnete sich sein Herz. Er gab seine gelehrten Studien auf und zog sich zurück in die Nische der Kapelle in seinem Haus, wo er sieben Jahre lang „Allâh! Allâh! Allâh!“… wiederholte, „bis schließlich jedes meiner Atome laut auszurufen begann ‚Allâh! Allâh! Allâh!’“ Er erzählt die Geschichte, wie er das erste Mal auf die Bedeutung dieses Dhikr aufmerksam wurde. Er war bei Sheik Abû’l-Fadl Hasan, und als dieser ein Buch zur Hand nahm und anfing darin zu lesen, überlegte Abû Sa’îd, da er ja ein Gelehrter war, um welches Buch es sich wohl handelte. Der Sheikh nahm diesen Gedanken wahr und sagte:
Abû Sa’îd! Alle einhundertvierundzwanzigtausend Propheten wurden gesandt, um ein Wort zu predigen. Sie baten die Leute „Allâh!“ zu sagen und sich Ihm hinzugeben. Jene, die dieses Wort nur mit dem Ohr aufnahmen, bei denen ging es zum anderen Ohr wieder hinaus; doch jene, die es mit ihren Seelen hörten, prägten es ihren Seelen ein und wiederholten es, bis ihre Herzen und Seelen vollständig davon durchdrungen waren, und ihr gesamtes Sein zu diesem Wort wurde. Sie wurden von der Aussprache dieses Wortes unabhängig gemacht und von dem Klang und den Buchstaben befreit. Nachdem sie die spirituelle Bedeutung dieses Wortes verstanden hatten, waren sie darin derart versunken, dass sie sich ihrer eigenen Nicht-Existenz nicht mehr bewusst waren.(2)
Nach einer esoterischen Sufi-Tradition ist das Wort Allâh zusammengesetzt aus dem Artikel al und lâh, dessen eine der möglichen Bedeutungen „nichts“ ist. Von daher bedeutet das Wort Allâh im eigentlichen Sinne „das Nichts“. Für den Sufi ist die Tatsache, dass sein größter Name „das Nichts“ bedeutet, von besonderer Bedeutung, denn die Wahrheit, oder Gott, wird als das Nichts erfahren. Eines der Geheimnisse des Pfades ist, dass diese Leere, dieses Nichts dich liebt. Es liebt dich mit solcher Innigkeit und Zärtlichkeit und grenzenlosem Verständnis. Es liebt dich aus dem Innersten deines Herzens, aus dem Kern deines innersten Seins und ist nicht von dir getrennt. Sufis sind Liebende und das Nichts ist der Große Geliebte, in dessen Umarmung der Liebende sich vollständig auflöst.
Kurz vor seinem Tod sagte der Naqshbandi Sufi-Meister Bhai Sahib „Es gibt nichts als das Nichts.“ Er wiederholte diese Worte zwei Mal und wie Irina Tweedie erklärt, verweisen sie auf die innerste Essenz des Sufi Pfades:
Es gibt nichts als das Nichts…das Nichts in dreifacher Hinsicht: Das Nichts, weil das kleine Selbst (das Ego) gehen muss. Man muss zu nichts werden. Das Nichts, weil die höheren Bewusstseinszustände für den Verstand das Nichts bedeuten, denn er kann dort nicht hinreichen; sie liegen völlig außerhalb seines Wahrnehmungsrahmens. Auf der Ebene des Verstandes kann es kein völliges Verstehen dieser Zustände geben, also ist er mit dem Nichts konfrontiert. Und im letzten und erhabensten Sinne bedeutet es, in den Leuchtenden Ozean der Unendlichkeit einzutauchen. Ich glaube, so ist dieser Satz zu verstehen; und das hat Bhai Sahib gemeint, als er von dem Nichts und dem Einen sprach.(3)
Von daher beinhaltet der Name Allâh die Essenz aller Sufi-Lehren: zu nichts zu werden, in Ihm ausgelöscht zu werden, so dass Seine unendliche Leere alles ist, was bleibt. Das ist der Pfad der Liebe, der Becher Wein, der von Seinen Liebenden getrunken wird. Mit den Worten von Rûmî:
Ich leerte diesen Becher:
Es ist nichts mehr geblieben
Außer ekstatischer Auslöschung.(4)
Erinnerung
Im Kern des Dhikr befindet sich das Prinzip der Erinnerung. Indem wir Seinen Namen wiederholen, erinnern wir Ihn nicht nur auf der Verstandesebene, sondern im Herzen und schließlich kommt die Zeit, in der jede Körperzelle den Dhikr, Seinen Namen, wiederholt.
Es heißt: „Am Anfang machst du den Dhikr, dann macht der Dhikr dich“. Er wird ein Teil unseres Unbewussten und singt in unserem Blutstrom. Dies ist auf so schöne Weise in einer alten Sufi-Geschichte dargestellt:
Sahl sagte zu einem seiner Schüler: „Bemühe dich, einen ganzen Tag lang immerfort ‚Allâh! Allâh! Allâh!’ zu sagen. Er tat dies auch am nächsten und am übernächsten Tag, bis er sich daran gewöhnt hatte.“ Dann ordnete Sahl an, er solle dies auch zur Nacht tun, bis die Worte ihm so vertraut wurden, dass er sie sogar im Schlaf aussprach. Dann sagte Sahl: „Wiederhole sie nicht mehr, sondern lass all deine Sinne damit beschäftigt sein, Gottes zu gedenken!“ Der Schüler tat das, bis er ganz im Gedenken an Gott absorbiert war. Eines Tages, als er zuhause war, fiel ihm ein Stück Holz auf den Kopf und zerschlug ihm den Schädel. Die Blutstropfen, die auf den Boden flossen, trugen die Inschrift ‚Allâh! Allâh! Allâh!’“(5)
Die Art und Weise, wie der Name Gottes den Wanderer durchdringt, ist nicht metaphorisch zu verstehen, sondern als tatsächliches Geschehen. Der Dhikr wird durch den Lehrer magnetisiert, so dass der Suchende in seinem Inneren auf den Pfad und das Ziel ausgerichtet wird. Aus diesem Grund muss der Dhikr von einem Lehrer gegeben werden, obwohl er in manchen Fällen auch durch das höhere Selbst oder traditionellerweise durch Khidr übertragen werden kann.
Der Dhikr arbeitet im Unbewussten und verändert unseren mentalen, psychologischen und physischen Körper. Auf der mentalen Ebene ist dies leicht festzustellen. Normalerweise folgt der Verstand im alltäglichen Leben seinen automatischen Denkprozessen, über die wir oftmals nur wenig Kontrolle haben. Der Verstand denkt eher uns als umgekehrt. Richte deine Aufmerksamkeit nur für einen Moment auf deinen Verstand und beobachte seine Gedanken. Jeder Gedanke erzeugt einen neuen Gedanken und jede Antwort eine neue Frage. Und da die Energie dem Gedanken folgt, wird unsere mentale und psychische Energie in viele verschiedene Richtungen zerstreut. Spirituelles Leben bedeutet zu lernen, sich auf einen Punkt zu konzentrieren, all unsere Energie in eine Richtung zu fokussieren—auf Ihn. Indem wir Seinen Namen wiederholen, verändern wir die Muster unserer mentalen Konditionierung, die Spurrillen, die wie auf einer Schallplatte immer wieder dieselbe Melodie abspielen, dieselben Muster wiederholen, die uns an unsere mentalen Gewohnheiten binden. Der Dhikr ersetzt diese alten Spurrillen nach und nach durch die Spurrille Seines Namens. Der automatische Denkprozess wird auf Ihn ausgerichtet. Wie ein Computer werden wir auf Gott umprogrammiert.
Es heißt, dass du zu dem wirst, was du denkst. Wenn wir an Allâh denken, werden wir eins mit Allâh. Doch die Wirkung des Dhikr ist viel subtiler und kraftvoller als lediglich ein Akt der mentalen Fokussierung. Eines der Geheimnisse eines Dhikr (oder Mantras) ist, dass er ein heiliges Wort ist, das die Essenz dessen überträgt, was es benennt. Dies ist „das Geheimnis der Identität Gottes und Seines Namens“ (6) („Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott“). In unserer Alltagssprache existiert diese Identität nicht. Das Wort „Stuhl“ beinhaltet nicht die Essenz eines Stuhles. Es benennt einen Stuhl lediglich. Doch die heilige Sprache eines Dhikr ist anders: die Schwingungen des Wortes stehen in Resonanz mit dem, was es benennt, es verbindet beides miteinander. Somit ist ein Dhikr in der Lage, das Individuum mit dem, was er benennt, zu verbinden.
Er, der Große Geliebte, kann nicht benannt werden, denn jeglicher Name stellt eine Begrenzung dar. Er ist ohne Form und ohne Namen, gerade so, wie das Tao beschrieben wird:
Das Tao, das mitgeteilt werden kann, ist nicht das ewige Tao.
Der Name, der genannt werden kann, ist nicht der ewige Name.(7)
Dennoch ruft die Menschheit Ihn auf sehr verschiedene Art und Weise an, und auf welche Weise auch immer Er gerufen wird, Er wird antworten. Deshalb sagen die Sufis „Im Namen dessen, der keinen Namen hat, doch der erscheint, bei welchem Namen auch immer du nach Ihm rufst.“ Rufst du Ihn bei dem Namen Christus, wird er als Christus erscheinen, rufst du nach Ihm als Ram, wird Er als Ram erscheinen. Doch die Sufis lieben den Namen Allâh, weil er dem Nichts, welches Seine Essenz ist, am nächsten kommt. Dieser Name ist eine Öffnung hin zu Seiner göttlichen Essenz, die es Seinen Dienern erlaubt, Ihm näher zu kommen. Er kann Seine Gegenwart im Herzen hervorrufen, kann uns helfen, Ihn zu erinnern und, indem wir Ihn erinnern, mit Ihm vereint zu werden, in Seinem Nichts verloren zu gehen.
Psychologische und physische Transformation
Auf der psychologischen Ebene ist der Dhikr ein kraftvolles Instrument der Transformation. Während er im Unbewussten arbeitet, richtet er unsere psychische Struktur aus und transformiert ihre Energien. Der Dhikr ist ein archetypisches Klang- und Wortsymbol, das auf magnetische Weise auf den Pfad ausgerichtet ist. Archetypische Symbole haben eine spezifische psychologische Funktion: sie agieren als Transformatoren psychischer Energie. Sie wandeln die Libido (die instinktive Lebenskraft) von einer „niedrigeren“ in eine „höhere“ Form um. Als archetypisches Symbol verfügt der Dhikr über das Potential, Energien aus dem Unbewussten emporzuholen, sie zu konzentrieren und umzuwandeln. Er erlöst und befreit uns von Knoten und psychischen Blockaden, die uns aufgrund unserer Begierden, Vorurteile und der geballten Auswirkungen unserer Anhaftungen und Konditionierungen bewusst und unbewusst gefangen halten. Ein offensichtliches Beispiel für diesen transformativen Prozess ist die Wirkung des Dhikr auf Ängste und Befürchtungen - Gefühle, von denen der Wanderer so oft heimgesucht wird. Das Wiederholen Seines Namens kann so oft helfen, diese Gefühle aufzulösen, oder dazu beitragen, dass sie uns nicht mehr so sehr im Griff haben.
Der Prozess der Transformation bezieht auch den physischen Körper des Weggefährten mit ein. Jedes Atom in der Schöpfung singt unwissentlich Seinen Namen und sehnt sich danach, wieder mit Ihm vereint zu sein. Der Dhikr fügt diesem unbewussten Erinnern das Licht des Bewusstseins hinzu und das bewusste Verlangen des Liebenden, den Geliebten zu erinnern. Das in der Dunkelheit der Materie verborgene Licht antwortet auf dieses fortwährende Gebet und beginnt auf einer höheren Frequenz zu schwingen. Auf diese Weise wird der physische Körper allmählich auf das höhere Bewusstsein des Selbst ausgerichtet; die Atome beginnen mit dem Lied einer Seele mitzuschwingen, die auf dem Weg nach Hause ist. Diese Transformation ist sehr schön dargestellt in einem Traum, in dem der Körper der Träumerin zuerst zu einem Herz wird und dann die Zellen sich in Musiknoten verwandeln:
Ich träumte, dass sich mein Körper in ein menschliches Herz mit all seinen Kammern verwandelte. Das Herz war in einem unermesslichen Universum unterwegs. Auf seiner Reise kehrte sich das Herz von innen nach außen und von außen nach innen und versäumte dabei nicht einen einzigen Schlag. Die Reise war endlos, während das Herz wie ein großer Asteroid durch den Weltraum trudelte.
Dann begannen die Zellen meines Körpers die Form von blauen und goldenen Musiknoten anzunehmen. Zunächst verwandelten sich die Zellen nur langsam in blaue und goldene Noten. Die Geschwindigkeit und die Anzahl der Zellen, die sich verwandelten, nahmen dann sehr schnell zu, bis mein ganzer Körper aus blauen und goldenen Noten bestand.
Es war, als ob ich mich über meinem Körper befand und diese Transformation beobachtete. Während dieser Prozess sich vollzog, verlor mein Körper mehr und mehr seine Konturen und seine Form. Da war ein blaues und goldenes Leuchten, während mein Körper und die Musiknoten zunehmend weniger voneinander zu unterscheiden waren.
Ich wachte auf und befand mich in einem außerordentlichen Gefühl der Ruhe. Während des Aufwachens nahm ich wahr, dass die Grenzen meines Körpers jenseits ihrer gewöhnlichen Begrenzung lagen und ganz allmählich in ihre alte Begrenzung zurückkehrten.
In unserem Herzen sind wir mit dem Geliebten vereint. Unser Herzschlag ist ein Teil des großen Rhythmus der Schöpfung. Doch für die meisten Menschen ist dies wie eine Erinnerung, die so tief vergraben ist, dass wir sie vergessen haben. Wenn wir bewusst danach streben, Ihn zu erinnern, erwecken die Übungen der Meditation und des Dhikr den ursprünglichen Zustand der Einheit. Unser Herz öffnet sich und wir beginnen zu fühlen, wie sein Rhythmus auf das Lied des Universums eingestimmt ist. Langsam überträgt sich diese innere Einstimmung auf den gesamten Körper und jede Zelle wird zu einer Note in der Symphonie der Schöpfung. Aus den Tiefen des Herzens bis in die Fingerspitzen und Fußsohlen hinein stimmt jeder Teil von uns in das Lied mit ein, welches das Geschenk der Schöpfung an den Schöpfer ist.
Gefährtenschaft
Für die Liebenden liegt im Wiederholen des Namens ihres unsichtbaren Geliebten, der so nah ist und doch so fern, eine tiefe Freude. Wenn Er nahe ist, ist es wunderbar, Ihm für die Glückseligkeit Seiner Gegenwart und für die Süße Seiner Gesellschaft danken zu können. Ist Er abwesend, hilft uns der Dhikr, die Sehnsucht und den Schmerz darüber zu ertragen, indem wir mit jedem Atemzug nach Ihm rufen. In schwierigen Zeiten gibt uns Sein Name Beruhigung und Hilfe. Er gibt uns Kraft und kann uns helfen, die Blockaden, die uns von Ihm trennen, aufzulösen. Wenn wir Seinen Namen sagen, ist Er bei uns, selbst wenn wir uns mit unserer Bürde sehr alleine fühlen. Er hilft Seinen Dienern, wann immer Er kann, und in Zeiten großer Not kann Sein Name uns retten.
Eine Freundin, die es gelernt hatte, Seinen Namen zu wiederholen, hatte eine sehr schwierige Beziehung zu einem Mann, den sie liebte. Er war in der selbstzerstörerischen Macht von Drogen gefangen und befand sich oft in einem paranoiden Zustand. Eines Tages, als er, unter dem Einfluss von Drogen, mit ihr hinaus aufs Land fuhr, begann er sie für all seine Schwierigkeiten verantwortlich zu machen. Er hielt am Rand eines Feldes an, nahm eine Pistole und zwang sie, aus dem Wagen auszusteigen. Dann hielt er ihr die Pistole an den Kopf und wollte sie erschießen. Sie wusste, das war keine leere Drohung, und sie konnte nur noch „Allâh!“ schreien. In dem Moment, als sie Seinen Namen rief, vollzog sich in dem Mann eine Veränderung. Seine Paranoia verschwand, er gab ihr die Pistole mit der Bitte, sie außerhalb seiner Reichweite zu verwahren. Er war über seine Handlungen zutiefst bestürzt und bat sie, ihn zurück nach Hause zu fahren.
Allâh liebt jene, die Ihn lieben. Er gedenkt jener, die Seiner gedenken. Durch den Dhikr bringen wir die Verbindung zu Ihm, die immer schon da war, ins Bewusstsein und werden uns der tieferen Geheimnisse unserer wirklichen Einheit bewusst. Der Name, den wir wiederholen, ist der Name, unter dem wir Ihn kannten, bevor wir geboren wurden. Es ist der Name, der in unsere Herzen eingraviert ist. Der Dhikr bringt die Prägung des Herzens in die Welt der Zeit und führt uns zu Ihm zurück. Allmählich werden wir uns der Tiefe unserer Verbindung bewusst und dessen, dass wir in unseren Herzen immer vereint sind.
Der Name offenbart, was er benennt, und der Liebende beginnt zu erkennen, dass nichts Anderes existiert als Gott:
Gott machte diesen Namen [Allâh] zu einem Spiegel für den Menschen, so dass, wenn er in ihn hineinschaut, er die wahre Bedeutung von „Gott war und es gab nichts neben Ihm“ erkennt, und in diesem Augenblick wird ihm offenbart, dass seine Ohren Gottes Ohren sind, seine Augen die Augen Gottes, seine Worte die Worte Gottes, sein Leben das Leben Gottes ist, sein Wissen das Wissen Gottes, sein Wille der Wille Gottes und seine Kraft die Kraft Gottes …(8)
Durch das Wiederholen Seines Namens wird der Liebende mit seinem Geliebten identifiziert, der in seinem eigenen Herzen verborgen war. Der Geliebte liebt es, Seinen Namen auf den Lippen und in den Herzen Seiner Diener zu hören, und Er antwortet darauf, indem Er allmählich die Schleier, die Ihn verborgen halten, lüftet. Der Liebende findet Ihn dann nicht nur geheim in seinem Herzen, sondern auch in der äußeren Welt, denn „wohin ihr euch … wendet, dort ist Allâhs Angesicht“. (9)
Der Geliebte wird zum ständigen Gefährten des Liebenden. Der Liebende wird auch zum Gefährten Gottes, denn „die Augen, die Gott wahrnehmen, sind auch die Augen, durch die Er die Welt wahrnimmt“.(10) Diese Beziehung der Gefährtenschaft gehört der jenseitigen Dimension an und wird dennoch in dieser Welt gelebt. Es ist die tiefste Freundschaft und erfordert das völlige Engagement des Liebenden. Wir sind Seine Diener und Er liebt es, als „der Diener Seiner Diener“ gekannt zu werden.
Durch den Dhikr stimmen wir unser gesamtes Sein auf die Frequenz der Liebe ein. Wir akzeptieren den Schmerz der Trennung als auch die Freude, Ihn, von dem wir getrennt sind, zu kennen. Wir wiederholen den Namen unseres Geliebten, weil das uns an Ihn, nach dem wir uns sehnen, erinnert. Wenn Allâh in unserem Herzen aufschreit, ist es beides: unser Gebet, als auch die Antwort darauf. Wir rufen nach Ihm, weil wir Ihn nicht vergessen haben. Ihn hier in dieser Welt fortwährend zu erinnern bedeutet, immer mit Ihm zu sein. Das Herz weiß darum, auch wenn es dem Verstand und dem Ego nicht so ergeht. Rûmî erzählt die Geschichte von einem Anhänger, der im Gebet war, als der Satan ihm erschien und sagte:
„Wie lange willst du noch ausrufen ‚O Allâh’? Sei still, denn du wirst keine Antwort bekommen.“
Der Ergebene ließ seinen Kopf in Stille hängen. Nach einer Weile hatte er eine Vision vom Propheten Khidr, der zu ihm sagte:
„Ach, warum hast du aufgehört, nach Gott zu rufen?“
„Weil die Antwort ‚Hier bin ich’ nicht kam“, erwiderte dieser.
Khidr sagte: „Gott hat mich beauftragt dich aufzusuchen und dir Folgendes zu sagen:
‚War nicht Ich es, der dich aufgefordert hat, Mir zu dienen?
Habe nicht Ich dich mit Meinem Namen beschäftigt gemacht?
Dein Rufen „Allâh!“ war Mein „Hier bin ich“,
dein sehnsuchtsvoller Schmerz war Mein Bote für dich.
Für all diese Tränen und Schreie und Gebete
war Ich der Magnet und verlieh ihnen Flügel.’“(11)
Um dieselbe Geschichte ging es in dem Traum einer Frau, die den Mond anheulte und schreckliches Versagen und Verzweiflung verspürte, weil sie keine Antwort bekam. Erst später erkannte sie die tiefste Innigkeit der Liebe: dass unser Schrei Sein Schrei nach Sich Selbst ist. Indem wir nach Ihm rufen, nehmen wir an dem Mysterium Seiner Schöpfung teil „Er war einsam und alleine und wollte geliebt werden, deshalb erschuf Er die Welt“.
Unsere Sehnsucht und unser Ruf nach Ihm sind der Stempel unserer Gefährtenschaft mit Ihm. Wir sind Seine Liebenden und schauen zu Ihm. Indem wir unsere Herzen Ihm zuwenden und zu Ihm schauen, erkennen wir für uns und für die Welt das Band der Liebe, das den Schöpfer mit Seiner Schöpfung vereint. Und wir überlassen uns der Liebe:
Wahrlich, Ich habe solche unter Meinen Dienern, die Mich lieben, und Ich liebe sie; sie sehnen sich nach Mir und Ich sehne Mich nach Ihnen; und sie blicken auf Mich und Ich blicke auf sie…Und ihre Zeichen sind, dass sie den Schatten am Tage sorglich bewahren wie ein Hirt seine Schafe, und sich nach dem Sonnenuntergang sehnen, wie sich ein Vogel zur Abenddämmerung nach seinem Nest sehnt; und wenn die Nacht kommt und die Schatten sich vermischen und die Betten ausgebreitet und die Bettstellen aufgebaut werden und jeder Liebende mit seiner Geliebten allein ist, dann stehen sie auf ihren Füßen und legen ihr Gesicht auf die Erde und rufen Mich mit Meinem Wort und schmeicheln mir mit meinen Gnadengaben, halb schreiend und halb weinend, halb verwirrt und halb klagend, manchmal stehend, manchmal sitzend, manchmal kniend, manchmal sich niederwerfend, und Ich sehe, was sie um Meinetwillen ertragen und Ich höre auf das, was sie über Meine Liebe klagen.(12)
Fussnote
(1) Koran, 6:91, Philip Reclam jun GmbH & Co, Stuttgart 1960
(2) Nicholson, Studies in Islamic Mysticism, S. 7
(3) Irina Tweedie, Der Weg durchs Feuer (Ansata-Verlag, Interlaken 1988), S. 964
(4) Übers. Daniel Liebert, Rumi, Fragments, Ecstasies (Santa Fe, New Mexiko: Source Book 1981) S. 45
(5) Annemarie Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam (Eugen Diederichs Verlag, Köln 1985) S. 241
(6) Peter Lamborn Wilson and Nasrollah Pourjavadi, The Drunken Universe, (Grand Rapids: Phanes Press 1997) S. 45
(7) Lao Tse, Tao Te King (Hugendubel Verlag, München 1978) , Eins
(8) Nicholson, Studies in Islamic Mysticism, S. 93
(11) Zit. von Nicholson, The Mystics of Islam, (London: Arkana, 1989), S. 113