Übersetzung des englischen Artikels The Loss of the Sacred and a Prayer for the Earth
Das Heilige ist überall um uns herum, eingewoben in Geschichten und Sternenlicht, in die reiche Struktur des Erdreichs und in bestimmte Träume, die in bestimmten Nächten kommen. Und doch ist es auch verborgen, aus dem Blickfeld verschwunden, vergessen, verloren in den Dramen des Tageslichts, in dem harschen Licht unserer Zivilisation mit ihren allgegenwärtigen Smartphones und Computern. Es ist die merkwürdigste Geschichte unserer Zeit, dass etwas so Essentielles, der Sauerstoff für die Seele, nicht mehr bemerkt wird, nicht einmal sein Fehlen. Unsere Kultur sucht nach Antworten auf so viele Fragen - die Teilchen unserer Materie, die Gene, die unseren Körper bauen - und dabei lässt sie das Wichtigste ungefragt. Was ist mit dem Heiligen geschehen, welches allein dem Leben Sinn zu geben vermag - diese einfache Wahrheit, die allen Kulturen bekannt war? So wie wir uns nicht mehr an die Wälder erinnern, die wir vor Jahrhunderten abgeholzt haben, wissen wir auch jetzt nicht, was wir verloren haben. Und wir als Kultur stellen uns noch nicht einmal die Frage, denken nicht einmal darüber nach, was das bedeuten könnte.
Die eigentliche Existenz des Lebens und der gesamten Schöpfung ist heilig (1). Und doch verdeckt unser Mangel an Bewusstheit, das Unvermögen unserer Kultur, die Schöpfung mit dem Heiligen in Beziehung zu bringen, sein Licht. Es wird mehr und mehr wie ein Traum, der sich beim Aufwachen verliert. In dem Maße, wie wir vergessen, nimmt das Licht des Heiligen ab. Und mit diesem Verfinstern schwindet auch eine wesentliche Qualität des Lebens.
Das Vergessen ist das mächtigste Gift. Die heilige Natur der Schöpfung zu vergessen, ist schädlicher und gefährlicher, als wir uns das auch nur im Ansatz vorstellen können. Das Vergessen dringt durch die Poren unseres Daseins und macht das Leben sinnlos, bevor es überhaupt wirklich begonnen, bevor sich die Knospe des Lebens zur Blüte entfaltet hat. Nach der simplen Freude des Kindes in diesem magischen Augenblick, wenn das Leben erwacht, ziehen schon bedrohlich Jahre und Jahrzehnte des Vergessens herauf. Sind wir dazu verdammt, unsere Tage in dieser Öde ohne Erinnern zu verbringen, während die Farben um uns verblassen und unsere Quellen versiegen?
Symbole des Heiligen haben die Menschheit von Anbeginn an begleitet, ein Beispiel sind die Höhlenmalereien in Südfrankreich mit ihren magischen Pferden, Bisons und Rhinozerossen. Die Maler von damals wussten um die Heiligkeit dieser Tiere, und es gibt die Auffassung, dass die Anordnung der Tiere Sternenkonstellationen wiedergaben. Andere meinen, sie wären Darstellungen von Visionen in heiligen Trancetänzen. Diese Malereien erinnern uns an eine Zeit, in der das Physische und das Mystische miteinander verwoben waren und die innere und die äußere Welt einander in dem Mysterium der Schöpfung spiegelten, an welchem alle Bewohner des Lebens teilhatten. Doch wenn wir durch die Straßen unserer Städte laufen oder auf unsere Bildschirme starren, bewohnen wir eine andere Wirklichkeit, die solche Wunder verloren hat. Die Technologie, so sehr sie für uns von Nutzen war, hat uns ausgeraubt, die Bilder unserer Wirklichkeit sind nicht mehr numinos. Und ich sinniere nun, wohin ist das alles verschwunden, wo ist die Note geblieben, die nicht mehr gehört wird?
Das Heilige ist keine Idee, sondern essentielle Wirklichkeit. Esoterisch betrachtet ist es eine aus Licht und der Liebe Gottes gebildete Substanz, in welche die tiefsten Geheimnisse der Schöpfung eingeschrieben sind. Sie enthält die spirituelle Bestimmung von allem, was ist, vom glatt polierten Stein, gefunden am Ozean, bis zum Kolibri, der Nektar aus den Blüten in meinem Garten trinkt. Die Substanz des Heiligen ist in den Stoff der Existenz eingewoben und gehört zum größten Versprechen der Schöpfung, dass das Leben nicht nur Überleben ist, sondern ein Feiern der Liebe. In diese Substanz sind alle Namen der Schöpfung eingeschrieben, Namen, welche die individuelle Bestimmung eines jeden Dinges, das existiert, verkörpern und zugleich auch die Einheit, von der wir alle Teil sind. Ohne diese heilige Substanz wären wir lediglich ein physisches Objekt, ein durch den Raum wirbelnder Brocken ohne Sinn und Zweck.
Und doch ist diese Substanz zugemüllt, vergessen von einer globalen materialistischen Zivilisation, die ihre Verbindung mit ihren ureigenen Wurzeln im Heiligen verloren hat. So wie das Licht eines Menschen, der Funken in der Seele, der das Geheimnis unseres individuellen Lebens trägt, vom Staub der Welt zugedeckt werden kann, so ist diese heilige Substanz durch unsere Muster des Konsumwahns verloren gegangen - durch unsere Art und Weise die Welt, ihre Meere und Wälder als Objekt zu behandeln, als Ressource, als etwas von uns Getrenntes, das wir durch unsere endlosen Begierden vergiften.
Verliert ein Mensch den Kontakt zu seiner Seele, ist die Glut zugedeckt und fast erloschen, dann verliert er die Möglichkeit zur spirituellen Evolution. So eine Person bleibt in ihren Verhaltensmustern, in ihrem Ego oder instinktiven Selbst gefangen. Das Leben geht weiter, aber ein wesentlicher Bestandteil, der Sinn verleiht, ist verloren gegangen. Und was mit einem Einzelnen geschehen kann, kann auch mit dem ganzen Planeten geschehen, wenn wir die Verbindung zu dem, was heilig ist, verlieren, wenn wir nicht mehr mit der Liebe und den Gebeten, die der Planet braucht, für ihn Sorge tragen und mit den Ritualen, die unsere Vorfahren kannten. Traditionell ist der einzelne Mensch der Mikrokosmos des Ganzen, der geringere Adam gegenüber dem größeren Adam der ganzen Erde. Und so wie wir aufgerufen sind, uns um unsere eigene Seele zu kümmern, um unser eigenes heiliges Selbst, so ruft uns das Leben auf, Hüter des Heiligen in der Schöpfung zu sein. Doch wir haben diesen Ruf über Jahrhunderte ignoriert, bis in unsere Gegenwart, wo wir den Schrei der Erde in ihrer Zeit der Not kaum noch hören können.
Und deshalb stirbt die Welt. Sie stirbt einerseits durch unsere industrielle Ausbeutung, die Giftstoffe unserer Kultur, das Artensterben, und sie stirbt andererseits durch den Verlust des Heiligen. Diese äußeren Verwüstungen führen zusammen mit den inneren in den Abgrund vor unseren Augen, während wir fortfahren zu vergessen. Und auch wenn wir die Zeichen unseres Raubbaus an der Umwelt sehen können, bleiben die inneren Verletzungen der Seele und der Weltseele, der anima mundi, unbemerkt. Wir haben vergessen, wie man die Zeichen liest - wir haben die Sprache der Seele vergessen.
So bleibe ich mit der Frage, die mich umtreibt: Was braucht es, damit wir aufwachen, und viel wichtiger noch, was braucht es, damit die Welt erwacht, damit das Lied der Schöpfung wieder gehört werden kann? In diesem Lied wird alles Leben auf neue Weise lebendig, Freude und Sinn können dann in die zerstörten Landschaften der Seele zurückkehren.
Meine eigene Reise hat mich über viele Meere geführt, an Gestade des Lichts und in Landschaften der Liebe. Dort gehören Geheimnis, Schönheit und das Heilige zu dem, was natürlich, was völlig lebendig ist. Doch kehre ich immer wieder zur physischen Welt zurück, zu dem Boden unter meinen Füßen, und in mir taucht dann die Frage auf: Wie können wir dieses Wunder zurückgewinnen, dieses Gefühl des Heiligen? Welche Wege müssen wir gehen, welche Opfer müssen wir bringen, um das wiederzufinden, was so essentiell ist? Wie muss das Gebet sein, das eine wirkliche Antwort auf den Schrei der Erde ist?
Wenn wir den Schrei der Erde hören, ihren Schmerz in unserer Seele fühlen, dann öffnet sich etwas in unserem Herzen. Wir sind von der Erde nicht getrennt, ihr Verlust ist unser Verlust, ihr Schrei unser Schrei. Unser Herz wird der Erde Gebet, das ruft, und die Liebe die Antwort auf diesen Ruf. Wir werden auf die einfachen menschlichen Werte zurückgeführt - Liebe und Fürsorge für die Erde und ihre zahllosen Bewohner. Mehr und mehr glaube ich, dass es die kleinen Dinge mit Liebe sind, was gebraucht wird, Handlungen, die aus liebender Güte entspringen - denn in diesen Qualitäten ist die Seele gegenwärtig. Und nur wenn die Seele gegenwärtig ist, können Wunder geschehen, kann Magie lebendig und können Gebete beantwortet werden. (2) Und die Liebe ist die stärkste Kraft in der Schöpfung.
Nur unsere Liebe für die Erde vermag zu heilen, was wir verwüstet haben, vermag das durch unsere Gier und unser Vergessen verödete äußere und innere Land zu erlösen. Das erscheint vielleicht zu einfach und idealistisch, eine unangemessene Antwort auf die Realitäten ökologischer Zerstörung. Doch die Liebe und das Gebet können das Heilige in der Schöpfung wiedererwecken und den Boden unter unseren Füßen wieder heil und heilig machen. Wir können die durch uns angerichteten Zerstörungen nicht allein durch Wissenschaft und Technologie beseitigen, auch wenn sie uns helfen können. (3) Zu allererst aber müssen wir uns erinnern und zu dem zurückkehren, was heilig ist, zur verborgenen Musik der Schöpfung - dem Herzschlag der Welt. Nur dann werden unsere Handlungen in Harmonie mit dem ganzen Leben, mit seinem Netz der Beziehungen, sein und so der Menschheit und dem Planeten helfen, wieder ins Gleichgewicht zurückzufinden. Dann kann die Erde neu erwachen als lebendiges, spirituelles Wesen, das sie in Wirklichkeit ist, und ihr Werk, sich selbst zu heilen, beginnen. Sie kann ihre große Weisheit mit uns teilen. Wir werden lernen mit den Kräften der Natur und der tiefsten Bestimmung des Lebens zusammenzuarbeiten.
Draußen vor meinem Fenster tanzen die Blätter im leichten Spätsommerwind, Sonnenlicht kräuselt sich in den Schatten hinein. In dieser einfachen Schönheit sehe ich auch, was fehlt - ein Licht, das nicht da ist. Aber ich spüre auch ein Gebet, das darauf wartet, gesagt zu werden, eine Erinnerung, die lebendig werden möchte. Das Heilige ist noch um uns und braucht unsere Aufmerksamkeit, braucht unsere Liebe, auch wenn es verdeckt unter unserem Vergessen an Kraft verliert. Hören wir den Schrei der Erde, sind wir ihr Gebet.
Erstveröffentlichung September 2016 im Kosmos Journal
ANMERKUNGEN
(1) Im Sufismus findet sich das in der Auffassung ausgedrückt, dass die Schöpfung die Selbstoffenbarung Gottes ist, wie es in dem hadith heißt: „Ich war ein verborgener Schatz und sehnte Mich danach, erkannt zu werden, also erschuf Ich die Welt, auf dass Ich erkannt werde."
(2) Einige globale Initiativen wie das Klima-Abkommen von Paris 2015 über die CO2Emissionen sind von großer Wichtigkeit. Doch wenn sie nicht mit einer wahren Fürsorge für die Erde einhergehen („Sorge für das gemeinsame Haus", wie es in Papst Franziskus' Umwelt-Enzyklika heißt) besteht die Gefahr, dass sie nur weiter dieses Bewusstsein, wir seien von der Erde getrennt, fördern, durch das wir in die gegenwärtige schlimme Lage geraten sind.
(3) Wissenschaft und Technik haben zweifellos zu der derzeitigen Zerstörung unseres Ökosystems beigetragen, aber ich bin überzeugt, dass wir Technologien entwickeln können, die die wechselseitige Verbundenheit des Lebens unterstützen und helfen, wirkliche Nachhaltigkeit für die ganze Schöpfung wiederherzustellen.