Gekürzte Übersetzung des Kapitels Love and Violation
Wo immer sich eine Ruine findet, ist Hoffnung auf einen Schatz -
Warum suchst du nicht den Schatz Gottes in dem verwüsteten Herzen? (1)
ER zerstört jene, die Er liebt. Die Liebe ist die mächtigste Kraft im Universum und die destruktivste für den Verstand und das Ego. Rūmī erzählt die Geschichte von jemand, der zum Propheten kam und sagte: „Ich liebe dich."(2)
„Sei vorsichtig, was du sprichst", sagte der Prophet.
Wieder sagte der Mann: „Ich liebe dich."
„Sei vorsichtig, was du sprichst", warnte der Prophet wieder.
Aber er sagte zum dritten Mal: „Ich liebe dich."
„Jetzt halte stand", sagte der Prophet, „denn ich werde dich durch dich selber töten.
Wehe dir!"(2)
Die Liebe ist ein todbringendes Schwert, das uns von unserem Ich lostrennt. Nur dann, wenn wir uns vergessen, erinnern wir Ihn. Nur wenn wir nichts mehr zu verlieren haben, kommt Er zu uns. Dann enthüllt Er ganz im Geheimen und unerwartet Seine Gegenwart, die das berauschende Einssein der Vereinigung ist. Da gibt es im Herzen kein ich und du, kein Gefühl der Identität oder Individualität, nur das Eintauchen und Verschmelzen in Seiner Umarmung. Das einzige Hindernis ist das Ich, und deshalb brauchen wir nur einen einzigen Schutz: den vor uns selber. Im Gegensatz zu unserer Konditionierung müssen wir es zulassen, nackt zu sein, verwundbar, zerstörbar, durchdrungen zu werden bis in den Kern unseres Wesens, bis ins innere Heiligtum unserer Seele.
Die Energie der Liebe attackiert nicht nur unsere Ego-Muster, sie öffnet uns auch. Indem sie die Schutzbarrieren zerstört, die wir um uns errichtet haben, offenbart die Liebe die verborgenen Orte des Herzens. In einer menschlichen Liebesbeziehung hinterlassen Verletzung und Verrat dort die gefährlichsten Wunden. Vom Schmerz gezeichnet verschließen wir uns nur zu leicht, umgeben uns mit einem schützenden Panzer und unterdrücken unsere Gefühle. Wir ziehen uns instinktiv zurück und hüten uns vor weiterem Schmerz. Doch all jene, die der Sehnsucht ausgeliefert sind, müssen die gefährliche Reise jenseits der Mauern des Selbstschutzes wagen. Der Wahnsinn der Liebe ist nicht bloß eine poetische Metapher, sondern eine Leidenschaft, die sich über den Urinstinkt des Selbstschutzes hinwegsetzt. Mit Rūmī's Worten:
„Die Liebe kommt mit einem Messer, nicht als schüchterne Frage,
und ohne Angst um ihren Ruf!…Die Liebe ist eine Närrin,
die ihre wilden Absichten lebt, sich die Kleider vom Leibe reißt und durch die Berge rennt,
Gift trinkt
und gelassen die Vernichtung wählt.…Lass die Bänder deines Gewandes gelöst.
Erschauere in dieser neuen Liebe jenseits von Oben und Unten. (3)
Geben wir uns dem Verletztwerden preis, opfern wir uns selbst auf dem Altar unseres Sehnens. In unserer Sucht nach dem Wein der Liebe verpfänden wir unseren Selbstwert. Wir wissen, dass der Liebe Schmerz auch ihre größte Verheißung birgt. Das wahre Selbst kann niemals von der Liebe verletzt werden. Das einzige Leiden der Seele entsteht, wenn wir den Geliebten verleugnen und uns von Seinem Angesicht abwenden. In der Arena der Liebe wird nur das Ich verwundet, leidet nur das Ego. Wenn es kein Hindernis gibt, wie kann es dann Schmerz geben? Schmerz entsteht durch Widerstand, durch das Ego, das darum ringt, sich zu schützen, oder gegen seine Verwundungen aufbegehrt.
Die Liebende, die auf ihren Geliebten schaut, weiß um das Leiden, doch sie wird von einem tieferen Instinkt getrieben als den der Selbsterhaltung. Ist das Feuer der Sehnsucht im Herzen erst einmal entzündet, hat uns das Verlangen der Seele nach Vereinigung eingefangen. Wenn wir „Ja", sagen zum Ruf des wahren Selbst, öffnen wir unser Herz dem Schmerz der Trennung. Dieser Schmerz zieht uns in die Arena der Liebe, wo die Energie des SELBST stärker ist als der Sog des Egos. Die Energie des SELBST gehört nicht dieser Welt der Dualität an, in der „ich" mich vor „dir" schützen muss. Das SELBST ist ein Zustand des Einsseins, in welchem „ich" und „du" als Teil der Großen Einheit erfahren werden. Der einzige Verrat wäre, wenn wir unser Herz vor dem Schmerz des Getrenntseins verschließen, wenn wir uns vor der Verletzung durch Seine Berührung schützen.
WAS AM WERTVOLLSTEN IST MUSS GEHEN
Offen für Verletzung zu sein heißt, nackt am Kreuz unseres sehnsüchtigen Verlangens zu hängen und die Zerstörung unserer Überzeugungen und Werte zu erleiden. Das, was für uns am wertvollsten ist, muss gehen. Äußere Anhaftungen aufzugeben, kann schon recht schwerfallen, aber wenn es um unsere Vorstellungen und unsere Identität geht, ist das weitaus schwieriger. Es fällt viel leichter, Besitz aufzugeben als sich selbst hinzugeben. Wir alle haben unser eigenes spezielles Glaubenssystem, zum Beispiel was Gerechtigkeit betrifft, oder unser Bild, was richtig ist. Aber solche Anschauungen gehören zu dieser Welt und begrenzen. „Glaube oder Vorstellungen welcher Art auch immer, können eine große Falle darstellen, sie machen uns zu Gefangenen."(4) Es kommt sogar die Zeit, wenn der Glaube an den Lehrer hingegeben werden muss, wie es in dem Zen-Ausspruch heißt: „Triffst du Buddha unterwegs, töte ihn." Der Wanderer zieht auf einer Straße jenseits aller Form, aller Begrenzungen zum grenzenlosen Ozean der Liebe.
Das Ich braucht eine Identität, aber der Wanderer strebt danach, „gesichtslos und formlos" zu werden, ein leerer Spiegel, der Sein Licht reflektieren kann. Viele Jahre lang habe ich daran gehangen, ein spiritueller Sucher zu sein. Das war eine Identität, die mir Zielstrebigkeit gab und Halt in schwierigen Zeiten. Für eine Weile war das eine notwendige Krücke, doch dann kam der Moment, wo sie wegfiel und ich mit einem Gefühl des Verlassenseins zurückblieb. Was war ich, wenn nicht ein Sucher? Damals hatte ich dann einen Traum, in dem ich meinen eigenen Sarg sah, auf dem geschrieben stand: „Spiritueller Sucher".
Manchmal fallen Anhaftungen und Identitäten weg, manchmal werden sie unseren blutenden Händen entwunden, während wir noch darum ringen, ein Selbstgefühl zu bewahren. Oft sind wir überrascht, wenn wir feststellen, was für uns am wertvollsten ist, am schwierigsten, es zu verlieren. Aber die Energie des SELBST ist unbarmherzig in ihrem Drang nach der WAHRHEIT. Hängen wir daran, Künstler zu sein, verlieren wir womöglich unsere Kreativität. Und wenn wir daran anhaften, ein Versager zu sein, zwingt man uns womöglich, erfolgreich zu werden.
Die Wirkmacht der göttlichen Liebe liegt darin, dass sie weder an eine Form gebunden ist, noch sich eingrenzen lässt. Die Aufgabe des Liebenden ist, in dem Prozess der Zerstörung, dem Werk der Auslöschung, zu kooperieren. Die Liebe durchschneidet Illusionen und attackiert Muster des Eigeninteresses. Das Schwert der Liebe ist gnadenlos; es zerstört alles, was zwischen Liebendem und Geliebten steht:
Ein Beduine wurde gefragt: „Anerkennst du deinen Herrn?"
Er erwiderte: „Wie sollte ich Ihn nicht anerkennen, der mir Hunger sandte, der mich nackt und arm werden ließ und mich von einem Land zum anderen wandern machte?"
Und als er das sagte, fiel er in Ekstase. (5)
Uns vor der Liebe Schwert zu schützen heißt, uns vor Seiner Nähe zu schützen. ER leert uns von uns selbst, auf dass Er Seine Schönheit und Seine Majestät offenbaren kann. Geleert und frei vom Ich ist der Liebende offen für die Seligkeit Seiner Gegenwart.
VERZWEIFLUNG UND ERGEBUNG
Seine Liebe für uns entzündet den Urschmerz der Sehnsucht, dieser Wunde, die nur durch Seine Berührung geheilt werden kann. Die Qual der Seele ruft uns wach und bringt uns die Trennung zu Bewusstsein. Die Wirksamkeit dieses Schmerzes liegt darin, dass es keine Zuflucht und keine Verteidigung gibt, die uns vor ihm schützen könnte. Unsere Liebe für Ihn durchdringt unsere Widerstandsmuster. Der Hunger nach Gott ist keineswegs ein idealisiertes Gefühl, sondern ein Bedürfnis, das aus den instinktiven Tiefen unseres Wesens kommt. Wir verzehren uns nach Seiner Berührung mit einem Verlangen, das nur die Süchtigen verstehen können. In der Falle der Liebe gefangen, würden wir alles verpfänden, auch unsere Selbstachtung. Die Liebe hat ihre ganz eigenen Werte wie in Attār's Geschichte von einem Herrn, der alles aus Liebe zu einem Bierverkäufer verlor:
Ein Herr verkaufte alles, was er besaß - Einrichtung, Sklaven und mehr, um Bier von einem jungen Bierverkäufer zu kaufen. Er wurde völlig verrückt vor Liebe zu diesem Bierverkäufer. Er war immer hungrig, denn gab man ihm Brot, versetzte er es sofort, um Bier zu kaufen. Schließlich fragte ihn jemand:
„Was ist diese Liebe, die dich in so einen erbarmungswürdigen Zustand bringt? Enthülle mir das Geheimnis!"
„Sie ist", entgegnete er, „dass du alles Hab und Gut von hundert Welten für ein Bier verkaufst.
So lange du das nicht verstehst, wirst du niemals das wahre Gefühl der Liebe erfahren."(6)
Während uns die menschliche Liebe Sicherheit, Wärme und das Gefühl, gewünscht zu sein, bieten kann, öffnet die göttliche Liebe ein anderes Tor. Die Götter entführten Persephone, brachten sie fort in die Unterwelt, und es blieb eine durch den Kummer der Mutter verwüstete Erde zurück. Die göttliche Liebe - sie ist erotisch und unzähmbar - zerstört alle Pläne von Glück, alle Bilder von Freiheit. Die Liebende ist von einer Leidenschaft gepackt, die viel mächtiger ist als jegliche Vernunft. Ihr gesamtes Wesen wird von sehnlichem Verlangen durchdrungen und dann zerrissen. Wie Mirabai, die indische Prinzessin und Mystikerin aus dem 16. Jahrhundert, die auf der Suche nach Krishna, ihrem „Dunklen Herrn", ihren Palast verließ und durch die Straßen und Wälder zog, ist die Liebende bereit, alles aufzugeben für einen kurzen Blick ihres Geliebten.
Höre meine Bitte, o Dunkler,
ich bin deine Dienerin -
eine Vision von dir hat mich verrückt gemacht,
die Trennung nagt an meinen Gliedern.
Deinetwegen werde ich eine Yogini werden,
umherziehen von Stadt zu Stadt,
durchkämmen die geheimen Viertel -
mit Asche beschmiert und mit einem Hirschfell bekleidet
mein Körper zu Glut verzehrt.
Von Wald zu Wald werde ich kreisen
elendig und heulend -
O Ungeborener, Unzerstörbarer,
Komm zu deiner Bettlerin!
Beende ihren Schmerz und berühre sie mit Lust!
Dieses Kommen und Gehen wird enden, sagt Mira,
wenn ich Deine Füße für immer umklammere. (7)
Die Verzweiflung der göttlichen Liebe entsteht dadurch, dass die Liebende Opfer einer Macht jenseits ihrer Kontrolle ist. In der menschlichen Liebe sind wir mit Machtdynamiken und Verführungsstrategien beschäftigt. Wir setzen mit unseren menschlichen Partnern eine Menge an Spielen und psychologischen Dramen in Szene. Egal ob wir die Rolle der Unschuldigen, des Helden, der Verführerin oder des Tyrannen einnehmen, planen wir doch unbewusst oder bewusst unsere Schritte und bringen sie zur Aufführung. In unsere Romanzen und Beziehungen sind Muster der Macht und des sich Schützens eingewoben. Beim Geliebten jedoch sind wir immer das Opfer.
Ob wir von Seiner Liebe verführt oder überfallen werden, ob wir versuchen, wegzulaufen oder uns freudig herschenken, ist Er dabei doch immer der Herr und wir der Sklave. Sein Blick ist so zwingend, dass wir hilflos werden. Auch wenn wir uns noch wehren und kämpfen, sind wir längst das Opfer der Liebe. Wir können Ihn mit unserem freien Willen zurückweisen, uns vom Abgrund Seiner Umarmung abwenden und zu unseren Problemen und Anhaftungen zurückkehren, aber Er bleibt der Meister der Liebe.
Es ist keine Liebesgeschichte unter Gleichberechtigten, kein Geben und Nehmen von Partnern. Blind geben wir uns einem Geliebten hin, der totale Unterwerfung fordert, stellen einen Blanko-Scheck der Ergebung aus. Alles, was wir anbieten können, ist unser Unvermögen, Ihn zu lieben, wie Er geliebt werden sollte, und unsere Unfähigkeit, Ihn zu kennen. Still flehen wir, Er möge uns gestatten, näher zu kommen, möge uns mit dem kleinsten Blick Seiner Augen beehren, mit dem schwächsten Duft Seiner Gegenwart. Wie Mirabai wissen wir, unser einziger Platz ist zu Seinen Füßen.
SCHWANGER MIT GOTT
Auf dem Sufi-Pfad wird die Beziehung zum Geliebten in der Beziehung zum Lehrer widergespiegelt. Der Sheikh ist der Mittler zwischen dem Wanderer und dem Geliebten. Das Herz des Sheikhs ist ein reiner Spiegel, der das Licht des Göttlichen ins Herz der Liebenden spiegelt. Diese Übertragung der Liebe geschieht auf den inneren Ebenen der Seele und schafft eine Beziehung unpersönlicher Intensität. Eine Freundin hatte eine Vision, als sie das erste Mal zur Gruppe ihres Lehrers kam:
Ich hatte kaum die Augen geschlossen, um zu meditieren, als ich unauslöschlich vor meinem inneren Auge den Lehrer völlig nackt und mit einem riesigen erigierten Phallus vor mir stehen sah. Zugleich ähnelte seine Gestalt der der Jungfrau Maria, wie man sie von Gemälden kennt, wo sie in scheuer Demut, die Beine und Füße in einer bestimmten weiblichen Haltung, dasteht. So stand er und schaute nur, und seine Augen flammten eine unbeschreibliche Liebe zu mir herüber, die mein Herz wie mit einem Schwert durchbohrte.
Diese Freundin beschreibt ihre Reaktion auf diese Erfahrung und ihr Verständnis von deren Bedeutung:
Diese Vision war eine Veranschaulichung, welche Absolutheit der Verpflichtung verlangt werden würde. Sie zeigte, dass nichts zurückgehalten werden durfte. Doch in dem Moment wusste ich nur, dass sie mich zutiefst verstörte und alle meine Konzepte vom spirituellen Leben über den Haufen warf. Sie erweckte mit diesem einen Blick vom göttlichen Liebhaber eine Sehnsucht in mir, die mich auf eine Weise quälte, die ich überhaupt nicht beeinflussen konnte. Ich ahnte schwach, dass sie ein numinoses Ereignis gewesen sein könnte, doch sie erschreckte mich zutiefst, und ich hatte für sie auch kaum einen mir bekannten Bezugsrahmen. Sie schien mir sogar sündig, erniedrigend, und sie schockierte meinen Verstand. Ich wollte nur noch davor so weit wie möglich wegrennen, sie für immer aus meinem Bewusstsein löschen.
„Der Körper ist mit einbezogen", sagte mir mein Lehrer unmittelbar danach, denn er hatte etwas von dem, was geschehen war, wahrgenommen, obwohl ich ihm natürlich nichts davon erzählte. Er wusste, dass ich nicht verstand, dass alles vom Sucher auf den Pfad geht. Erst später wurde mir klar, dass die Vision vom Lehrer einerseits das Potenzial der männlichen Kraft des Höheren Selbst, zu penetrieren und die Seele mit Gott schwanger zu machen, darstellt und andererseits die weibliche Haltung der Seele, nämlich die Nacktheit und Empfänglichkeit vor Gott.
All jene von uns, die in einer Tradition herangewachsen sind, die Konzepte und Ideen über Gott kennt, können sich am Anfang nicht einmal vorstellen, wie umfassend der Liebende vom Geliebten in dieser totalen Liebesgeschichte genommen wird. Wir wissen vielleicht, dass wir, wenn wir uns auf einen sogenannten spirituellen Pfad einlassen, uns Gott schenken müssen, aber es ist eine schockierende Tatsache zu erfahren, dass Er nicht nur die besten Teile von uns will, sondern alles von uns. ER will besonders all das von uns, was wir für „nicht spirituell" halten, und gerade jene dunklen und instinktiven Teile, die wir meinen, unterdrücken und verleugnen zu müssen. Aber irgendwo in uns wissen wir unbewusst, was Er will, und genau dieses Schicksalhafte zieht uns zu diesem Pfad der Liebe - unser überwältigendes Bedürfnis, von Gott genommen zu werden. Wir würden uns nie mit weniger als dem Ganzen zufrieden geben, weil Er es nicht kann. Irgendwie ist das völlig notwendig und natürlich für uns, sonst würden wir nicht gegen unser besseres Wissen und unseren gesunden Menschenverstand von diesem so seltsamen Pfad der Liebe angezogen.
Der Phallus und die Nacktheit des Lehrers veranschaulichen die Wirkmacht und Verwundbarkeit in der Beziehung mit dem Göttlichen. Die Assoziation vom Körper des Lehrers mit der Heiligen Jungfrau weist auf die Unbefleckte Empfängnis hin, diesen Prozess, durch den der GEIST die Seele mit dem Samen des höheren Bewusstseins schwängert. In dieser Vision geschieht die Schwängerung durch die Augen des Lehrers, die „eine unbeschreibliche Liebe zu mir herüber flammten, die mein Herz wie mit einem Schwert durchbohrte … Sie erweckte mit diesem einen Blick vom göttlichen Liebhaber eine Sehnsucht in mir, die mich auf eine Weise quälte, die ich überhaupt nicht beeinflussen konnte." Das Schwert der Liebe bohrt sich bis in das Innerste unseres Wesens, wo sich das Mysterium der göttlichen Empfängnis vollzieht: Die Seele wird mit Gott schwanger gemacht. Mit den Worten von Rūmī: „Kummer um Seinetwillen ist ein Schatz in unserem Herzen. Mein Herz ist Licht über Licht, eine schöne Maria mit Jesus im Schoß."(8)
Das im Herzen der Liebenden empfangene göttliche Bewusstsein ist das Wissen von Seiner Einheit, von Seiner unendlichen Gegenwart und grenzenlosen Liebe. Das Bewusstsein Seiner Einheit löst alle äußere Erscheinung der Dualität auf und ist die direkte Wahrnehmung von Essenz zu ESSENZ. Abū Saʻīd ibn Abī-l-Khayr bezeichnet dieses Bewusstsein als sirr Allāh, das Bewusstsein von Gott, welches Gott in das Herz legt. Er beschreibt, wie es ins Herz gelangt:
Sirr ist eine Substanz von Gottes Gnaden, und sie ist hervorgebracht durch die Großzügigkeit und Güte Gottes, nicht durch Erlernen und Tun des Menschen. Zu allererst erzeugt Er ein Bedürfnis und Sehnen und Kummer im menschlichen Herzen. Dann meditiert Er über dieses Bedürfnis und diesen Kummer, und in Seiner Großzügigkeit und Güte gibt Er eine spirituelle Substanz in dieses Herz, die der Kenntnis von Engel und Prophet verborgen ist. Diese Substanz heißt sirr Allāh … sie ist unsterblich und kann unmöglich zunichte gemacht werden, da sie in Gottes Kontemplation über sie fortdauert. Sie gehört dem Schöpfer an … (9)
Der Schmerz der Sehnsucht läutert die Psyche und bereitet die Seele vor. Die Sehnsucht ist die schrecklichste Wunde des Herzens, durch die wir für Gott geöffnet werden. In seiner Intensität dringt der Schmerz tief in uns ein und brennt unsere Unreinheiten weg. Je stärker die Sehnsucht ist, desto rascher vollzieht sich der Prozess der Läuterung. Jedes Atom schreit nach Vereinigung, und wenn die Sehnsucht unser ganzes Wesen durchdringt, ist auch unser ganzes Selbst für Seine Umarmung bereitet. ER will alles von uns, nicht nur das, was wir für spirituell halten. Der Körper ist in dieser vernichtenden Ekstase der Liebe mit einbezogen. Alles muss Ihm überlassen, Ihm hingegeben werden: der Verstand, die Psyche, der Körper und die Seele. Die Tiefe, die Leidenschaft und Intensität dieses Überlassens gehört nur zur göttlichen Liebe, wie eine weitere Freundin in der Meditation erfuhr.
Ich erlebte ein plötzliches intensives Gefühl, bis tief in den Körper durchdrungen zu werden. Diese Erfahrung brachte eine Art Wissen mit sich, das unmöglich zu vermitteln ist. Die Macht, sich dieser Liebe fügen zu müssen, ihr zu gestatten, den dunkelsten Ort in der Materie zu finden, zu dem sie leidenschaftlich drängt, zuzulassen, dass sie die sich öffnenden Räume erleuchtet und erfüllt, und diese Liebe zu umfangen und zu halten und mit derselben intensiven Leidenschaft plötzlich und freudig zu entdecken, dass beides in einer tiefen unbekannten Weise identisch ist. Diese Macht erkennt und vervollständigt ein gemeinsames Verlangen, welches, wie aus einer fernen Vergangenheit zurückgekehrt, erst im Augenblick der Hingabe erinnert wird. Das Gefühl in dieser Erfahrung war dicht am Schmerz. Ich hielt und nährte in meinem Körper die köstlichste unbekannte Gegenwart, und mein Körper umhüllte sie in großer, anfangs fast unerträglicher Lust, die dann zu einer sanften Wärme überwechselte. Alle anderen sexuellen Erfahrungen sind verglichen damit nur schal.
Die uralte Erinnerung an die göttliche Liebe wird bewusst, wenn sich die Liebende ihrer durchdringenden und erleuchtenden Macht ergibt. Das gemeinsame Verlangen von Liebender und Geliebten gehört zur Erinnerung der Seele, gehört zu dem ewigen Moment von „Er liebt sie und sie lieben Ihn". Die Verkörperung dieser Erinnerung ist, wenn sie in Körper, Psyche und Seele gefühlt wird, die Vervollkommnung des Kreises der Liebe. In den Worten von Mechthild von Magdeburg:
Ich verlangte sehnlich nach Dir, bevor die Welt begann.
Ich ersehne Dich jetzt,
so wie Du mich ersehnst. Und wo das sehnende Verlangen von Zweien
zusammenkommt,
ist deren Liebe vollendet. (10)
Des Herzens sehnliches Verlangen nach Gott ist aus Seiner Liebe zu uns geboren und kehrt zu Ihm zurück. So wie die Liebe keine Grenzen hat, ist auch das Verlangen grenzenlos. Das Verlangen ist die Liebe als verletzende Überwältigung, denn sie anerkennt keine Schutzmauern der Konditionierung, und ihr Schmerz zerschmettert unseren Widerstand gegen Gott. Erwacht es im Kern unseres Seins, wirkt es wie ein Verräter inmitten unseres Ego-Selbst. Je mehr wir uns Gott zuwenden, desto heftiger fühlen wir seinen Sog. Dieses sehnliche Verlangen wird durch die Meditation verstärkt, und der Dhikr prägt die Qual, von Ihm, dessen Namen wir wiederholen, getrennt zu sein, noch tiefer ein. Unsere einzige Abwehr wäre, Ihn zu verleugnen. Aber dann verleugneten wir die Liebe unserer Seele für ihren Geliebten.
Die Liebe und das sehnliche Verlangen überwältigen unsere Vernunft. Die Liebe ist Wahnsinn, eine Krankheit und eine Sucht. Die Sehnsucht ist ein süßes Gift, das Verzweiflung bringt. Das Herz schreit, die Seele schreit, aber Er, den wir so nötig brauchen, ist abwesend. Wir werden gezwungen, alles fortzugeben. Wie ein Trinker getrieben suchen wir nach einem Schluck der Vernichtung. Nur die Liebe kann den qualvollen Kummer der Liebe beheben, und erst wenn wir von der Liebe Leid durchdrungen sind, nimmt uns der Geliebte. Schließlich geben wir uns, getrieben von der Intensität unseres Sehnens und unserer Verzweiflung Ihm bedingungslos hin. Wir suchen nicht länger nach Schutz, sondern verkaufen uns unserem Herrn als Sklaven der Liebe. So wie es Janabai, eine indische Mystikerin aus dem 16. Jahrhundert, beschreibt:
Wirf ab all deine Scham
und verkauf dich
auf dem Marktplatz.
Nur dann allein
Kannst du hoffen, den Herrn zu erreichen.
Jani sagt: Mein Herr,
ich bin eine Hure geworden,
damit ich in Dein Haus gelange. (11)
ANMERKUNGEN
(1) Rūmī, zitiert von Annemarie Schimmel in: Mystical Dimensions of Islam, S. 191
Deutsche Ausgabe: Mystische Dimensionen des Islam, S. 212
(2) Rūmī: Signs of the Unseen, S. 119-20
(3) Rūmī: übers. von Coleman Barks: Say I am You, S. 27-28
(4) Bhai Sahib, zitiert in Tweedie: Der Weg durchs Feuer, S. 582
(5) Abū Sa‛īd ibn Abī-l-Khayr: The Secret of God's Mystical Oneness, S. 387
(6) The Conference of the Birds, übers. Von C.S. Nott, S. 103
(7) For Love of the Dark One: Songs of Mirabai, übers. Von Andrew Schelling, S. 107-8
(8) Zitiert von Chittick: The Sufi Path of Love, S. 241
(9) Zitiert von R.A. Nicholson in: Studies of Islamic Mysticism, S. 51
(10) Beguine Spirituality, hrsg. Von Fiona Bowie, S. 81
(11) Women in Praise of the Sacred, hrsg. Jane Hirshfield, S.115