Übersetzung des Vorwortes der 2. englischen Auflage, 2019
Als ich zwölf war, zog meine Familie von London in ein Haus auf dem Land, nur wenige Meilen von dem Städtchen Glastonbury mit seinem mythischen Tor entfernt. Viele Male kletterte ich in meiner Teenagerzeit die steilen Hänge dieses merkwürdigen Hügels zur kleinen Kapelle hinauf. Ich streifte durch die Ruinen von Glastonbury Abbey mit ihrer wunderschönen achteckigen Klosterküche oder saß in der Stille beim Chalice Well. Auf der Fahrt von London zu unserem Haus kamen wir an Stonehenge vorbei, konnten Halt machen und zwischen den uralten Steinen umherlaufen. Das war in den Tagen vor dem New-Age-Tourismus mit all seinen Absperrungen und Buden. Der Tor, die Ruinen, der Brunnen und die ehrwürdigen stehenden Steine bei der Straße waren, wie schon jahrhundertelang, geheimnisvoll und doch sehr gegenwärtig. Es war eine Landschaft, welche die reiche Magie von Jahrhunderten, alten Völkern und heiligen Stätten barg.
Später, ich war kurz vor zwanzig, erfuhr ich von den Leylinien, den Energiemustern der Erde, und dass diese heiligen Stätten sich dort befanden, wo viele dieser Linien zusammenliefen. Sogar die kleinen Pfarrkirchen aus dem Mittelalter, wie Punkte über die englische Landschaft gesprenkelt, sind auf älteren Stätten, die zu diesem inneren Energiegitter gehörten, errichtet worden. Hier kamen die Welten zusammen, Gottesverehrung und Wunder waren in das Land eingewoben. Damals verbrachte ich einige Wochen in Chartres, um in der Kathedrale das Labyrinth zu studieren - ein in den Boden eingelassenes Muster, das den Pilger auf eine Initiationsreise(1) führt. Diese gotische Kathedrale, erbaut auf dem einst der Schwarzen Madonna geweihten Platz, ist ein Höhepunkt heiliger Geometrie und der Kunst der Glasmalerei. Und als eines späten Abends eine Pilgergruppe aus Paris kam und jede Person mit einer Kerze in der Hand eine Kette vorn um das Bauwerk bildete und dann im leeren Inneren stand, erkannte ich die Kraft dieses Ortes. Hier gab es ein altes, in unserer Zeit längst vergessenes weises Wissen. Heiliger Raum, heiliger Boden und esoterische Lehren hatten die verborgenen Energien der Erde und des Himmels miteinander verbunden.
In Chartres hat es eine mittelalterliche Mysterienschule gegeben, welche die heiligen Wissenschaften Geometrie, Musik und Astronomie lehrte. Die Eingeweihten wussten, wie man die spirituellen Energien aus den inneren Welten, die Kraft des Heiligen lenkt, um einen einzelnen Pilger erwachen zu lassen, aber zugleich auch die ganze Gemeinschaft und das Land zu nähren. Das war eine Spiritualität, die sich nicht auf persönliche Transformation beschränkte, sondern Teil eines tieferen Verständnis spiritueller Energie war, nämlich wie sie zur gesamten Menschheit und zur Erde selber gehört.
Der Tor, wo ich als Teenager herumkletterte, Stonehenge und die Kathedrale von Chartres, deren Labyrinth ein Modell des Universums ist, sind Teil eines globalen Netzwerks von Stätten spiritueller Kraft - des alten Kraftgitters unseres Planeten. Viele dieser Orte sind von indigenen Völkerschaften gehütet worden. Von den „Goldenen Bergen" des Altai in Sibirien bis zum „Herz der Welt" der Kogi in der Sierra Nevada zieht sich ein Netz von heiligen Plätzen, die traditionell das Gleichgewicht zwischen den inneren und äußeren Welten halten. Viele Schamanen und andere glauben, dass wir, wenn wir für diese Plätze Sorge tragen, unsere ehrfurchtsvolle Beziehung zu den heiligen und spirituellen Reichen wieder herstellen können und so den Kräften der Natur helfen, die Welt ins Gleichgewicht zu bringen.
Kurz nach meinem Aufenthalt in Chartres begegnete ich meiner Lehrerin. Als ich in dem kleinen Zimmer in Nord-London zu ihren Füßen saß, erfuhr ich eine weitere Dimension spiritueller Kraft: die Gegenwart spiritueller Meister, die in den inneren Welten des Lichts arbeiten. Ihr Werk besteht nicht nur darin, die spirituelle Entwicklung ihrer Schüler zu fördern, sondern der gesamten Menschheit und ihrer Evolution zu dienen. Im Mittleren Osten und in Indien wusste man schon lange von der Existenz solcher spiritueller Meister. Als dann im letzten Jahrhundert verschiedene spirituelle Traditionen aus dem Osten zu uns kamen, hat diese Komponente jedoch aus irgendeinem Grund den Weg hierher nur selten gefunden. Folglich gibt es im Westen kaum ein Wissen über die Existenz dieser Meister oder ihre Arbeit in der Welt - es gehört nicht zu unserem kollektiven spirituellen Bewusstsein. Unser Fokus auf das Individuum und unser Verständnis von Spiritualität bevorzugt zur persönlichen spirituellen Transformation hat uns die Sicht auf diese größere Dimension spiritueller Arbeit versperrt.
Im Sufismus gibt es die Tradition der awliyā , der Freunde Gottes. Das ist eine feststehende Anzahl von hochentwickelten Menschen, die für das Wohlergehen der Welt Sorge tragen. „ER hat die awliyā zu Statthaltern des Universums gemacht … Durch den Segen ihres Erscheinens fällt der Regen vom Himmel, und durch die Reinheit ihres Lebens sprießen die Pflanzen aus der Erde."(2) Im Judentum besteht eine ähnliche Tradition von einer Gruppe hochentwickelter Menschen, die helfen, das spirituelle Gleichgewicht in der Welt zu halten. Man kennt sie als die Lamed Vav Tzadikim oder die „Rechtschaffenen". In dieser Tradition gibt es in jeder Generation sechsunddreißig solcher Heiliger von deren Frömmigkeit das Schicksal der Welt abhängt. Diese heiligen Leute sind verborgen, niemand weiß, wer sie sind.
Jetzt steht das Schicksal unserer Welt auf dem Spiel. Unser Planet stirbt, verwüstet durch unseren Raubbau und unsere Gier - die Böden vergiftet, das Wasser verschmutzt - befinden wir uns mitten im sechsten Massenaussterben oder Anthropozän, dem ersten hauptsächlich von Menschen verursachten Massenaussterben. In nur wenigen Jahrzehnten, seit ich mich zum ersten Mal zum Tor hochmühte oder die stehenden Steine von Stonehenge berührte, hat unsere Welt viel von ihrer wilden Schönheit verloren, ist sie mehr und mehr zu einer abgeholzten Ödnis geworden, verursacht durch unseren materialistischen Alptraum. Manche sagen, wir hätten den „Kipp-Punkt" eines nicht mehr umkehrbaren Klimawandels überschritten, während andere auf eine wissenschaftliche Lösung hoffen, eine „grüne Ökonomie”, die es uns erlaubt, mit diesem Traum fortzufahren, der das fragile Netz des Lebens zerstört. Und die Erde selbst weint, und ihr Körper und ihre Seele rufen alle um Hilfe an, die fähig sind, hinzuhören, was der Zen-Mönch Thich Nhat Hanh die „Glocken der Achtsamkeit" nennt.
Und all jene von uns, die ihr Rufen vernehmen, antworten, indem sie eine „neue Story" suchen, eine, die nicht auf Wirtschaftswachstum basiert, sondern auf wirklicher Nachhaltigkeit für die gesamte Schöpfung, ein Narrativ, welches die Erde und Ihre vielen Gemeinschaften unterstützt.(3) Das ist eine Geschichte, die Ehrfurcht für die Erde zurückbringt und unsere Seelen mit dem Heiligen in der Schöpfung verbindet, eine Geschichte, die unseren Planeten retten kann. Einige haben bereits damit begonnen, einer solchen Geschichte Ausdruck zu geben mit der wunderschönen und überzeugenden Vision des gesamten Universums als ein einziges, untrennbar miteinander verbundenes lebendiges Ganzes, welches uns das Gefühl des Wunders zurückgibt, wodurch unser Körper und unsere Seele genährt werden.
Doch damit diese Geschichte lebendig wird, damit sie aus den Seiten unserer Vorstellungskraft heraustritt in die lebendige Wirklichkeit, brauchen wir spirituelle Macht - und zwar einerseits die alte Macht und Magie der Erde und andererseits die esoterische Weisheit der Meister. Wir brauchen das Wissen der Weisheitshüter der alten Traditionen, der indigenen Völker, die jahrhundertelang durch dieses Land gegangen sind und mit seinen Geistern gesprochen haben. Sie halten das Wissen der „ursprünglichen Weisungen", die der Menschheit zu Anbeginn gegeben wurden. Sie können uns helfen, die alten Wege zu erinnern, als alles noch heilig war, als die stehenden Steine noch lebendig waren, als die Kraft des heiligen Raums noch verstanden wurde, als Himmel und Erde, die Sonne und die Sterne noch miteinander verbunden waren und man die Namen der Schöpfung kannte.
Und wir brauchen die Macht und die Einsicht der spirituellen Meister, die um die Alchemie des Lichts und der Liebe wissen und wie man mit den höheren Energien im einzelnen Menschen und im Kosmos arbeitet - wie das Individuum ein Mikrokosmos des Ganzen ist, in der Sufi-Symbolik der kleinere Adam im Verhältnis zum größeren Adam(4) - und wie spirituelle Macht nicht nur für die individuelle Reise, sondern für die gesamte Menschheit und die Erde wirkt. Da die Arbeit mit der Liebe und dem Licht aufs Engste mit meinem Sufi-Pfad verbunden ist, versucht dieses Buch in der Hauptsache dieses Wissen aufzudecken. Diese Tradition birgt viele Geheimnisse, von denen einige jetzt in dieser Zeit des Übergangs benötigt werden.
Als ich dieses Buch vor über fünfzehn Jahren schrieb, geschah es aus einer Vision dieser neuen Geschichte heraus, diesem Erwachen der Erde, welches sich durch die Trümmer unserer untergehenden Zivilisation ausnahm wie grüne Schösslinge, die aus der trostlosen, kargen Ödnis sprießen. Und es gibt diese Anzeichen für ein globales Erwachen oder den Großen Wendepunkt - bei Einzelnen und bei Gruppen, welche die Erde und die Menschheit als lebendige Einheit sehen - , wenn wir in unserer kollektiven Wahrnehmung über das Bild der Trennung hinausgelangt sind zum Bewusstsein der Einheit. Und doch sind wir Zeugen einer sich beschleunigenden Zerstörung unseres Ökosystems , eines Ökozids, der die innere und die äußere Welt verwüstet. Und es findet in unserer gegenwärtigen Kultur eine zunehmende Entzweiung statt, wobei ein immer kleinerer Prozentsatz über immer größeren Reichtum und immer mehr sichtbare Macht verfügt. Während die alte Story die Welt und ihre Ressourcen immer fester im Griff hält und ihre verführerischen Bilder des Materialismus immer mehr Leute in ihr seelenloses Grauen zieht, bleibt die Frage, ob diese von Raffgier und Begehren gesteuerte Geschichte sich erst ganz und gar selbst zerstören muss, bevor etwas Neues vollständig geboren werden kann? Wird die ganze fragile Struktur unserer Welt bei unserem Abstieg ins dunkle Zeitalter zerfallen, oder kann die Welt eine Wende vollziehen, bevor es zu spät ist?
Ich glaube an die alten machtvollen Kräfte der Erde und an die Arbeit der Meister, sehe aber auch die Verheerungen, die wir anrichten, und dass dies auch noch Jahrhunderte so bleiben kann. Dieses Buch macht keine Versprechungen, sondern es öffnet ein Tor zu einer anderen Seinsweise, zu einem Verständnis spiritueller Macht, das uns in die auf uns wartende Zukunft führt, wann immer wir uns entscheiden, dieses Tor zu durchschreiten. Es ist kein Anleitungsbuch, das zeigt, wie man mit spiritueller Macht arbeiten kann. Vielmehr möchte es unser Bewusstsein erweitern, um eine Dimension spiritueller Arbeit einzuschließen, die im spirituellen Kollektiv nur selten Thema ist. Und besonders behandelt es die Beziehungen, die wir schaffen müssen, Beziehungen mit der inneren Welt der Seele und mit dem Leben selbst.(5) Die neue Geschichte der Menschheit wird sich aus Beziehungsmustern heraus bilden - Beziehungen untereinander, mit den inneren Welten und mit der Erde.
In den letzten Jahren sind wichtige Schritte in Richtung Wiederverbindung mit der ursprünglichen Weisheit der indigenen Traditionen erfolgt, was so wichtig ist, wenn wir wissen wollen, wie wir für die Erde als lebendiges, mit allem verbundenes Ganzes sorgen können. Spirituelle Arbeit auf den inneren Dimensionen von Licht und Liebe ist weniger bekannt - traditionell ist sie eher im Verborgenen geschehen. Doch dieser Aspekt spiritueller Macht spielt eine wichtige Rolle in unserer kollektiven Evolution. Wir brauchen diese Energie, diese Magie und dieses Licht, um der Menschheit zu helfen, aus ihrem Alptraum zu erwachen. Vieles an Vorbereitungen ist getan worden, wie ich in den folgenden Kapiteln beschreibe, aber die Welt heute hängt an einem dünnen Faden.
Llewellyn Vaughan-Lee
Oktober 2018
ANMERKUNGEN Vorwort zur Neuausgabe
(1) Wenn die Pilger den gewundenen Pfad des Labyrinths in Chartres, oft auf den Knien rutschend, bis zum Mittelpunkt zurückgelegt hatten und sich dann umwandten, sahen sie das Licht durch das Mandala des westlichen Rosetten-Fensters fallen, Symbol für das erwachte Herz. Diese Studie über das Labyrinth führte zu dem Buch: Chartres Maze: A Model of the Universe? Von Keith Critchlow, Jane Carroll und Llewellyn Vaughan-Lee.
(2) Hujwiri: Kashf-Al-Mahjub, Seite 213
(3) Weitere Quellen zu diesem Thema siehe unter: Vaughan-Lee, Changing the Story: www.workingwithoneness.org/articles/changing-the-story/ und www.workingwithoneness.org/uncategorized/changing-the-story-the-need-for-magic-2/ Artikel auf Deutsch: Heilige Ökologie - die Geschichte verändern, siehe.
(4) Der Mensch als Mikrokosmos findet sich auch in Leonardo da Vincis berühmter Federzeichnung vom Vitruvianischen Menschen, im Quadrat als Symbol für die Erde und im Kreis als Symbol für den Himmel stehend.
(5) Der Ausdruck „innere Welt" bezieht sich auf subtile Bewusstseinszustände, die über das bekannte physikalische Universum hinausgehen. Diese Auffassung findet man in religiösen, metaphysischen und esoterischen Lehren, welche die Idee der Existenz einer ganzen Reihe von subtilen Ebenen oder Welten oder Dimensionen vertreten, die von einer Mitte aus sich und den physikalischen Planeten, auf dem wir leben, das Sonnensystem und all die physikalischen Strukturen des Universums durchdringen. Diese gegenseitige Durchdringung von Ebenen schafft ein multidimensionales Universum mit vielen verschiedenen Bewusstseinsebenen.