Mit welchen Worten wir auch immer unserer Hoffnung für die Zukunft, für eine wahre Veränderung in unserer Welt Ausdruck verleihen, gemeinsam warten wir auf das Morgendämmern, auf ein neues Licht. So lange stehen wir nun schon an der Schwelle dieses neuen Morgens, so lange haben unsere Seelen von dessen Anbrechen geträumt – werden wir die Morgenröte, wenn sie denn endlich da ist, überhaupt bemerken? Unsere Augen haben sich an die gegenwärtige Dunkelheit gewöhnt, an deren Anziehungskraft und Ablenkungsmanöver, und so besteht die Gefahr, dass die Morgendämmerung vielleicht ganz einfach ungesehen an uns vorbeizieht. Sind unsere Vermeidungsstrategien so tief verwurzelt, sind wir so fixiert auf unsere Probleme und derart selbstbezogen auf der Suche nach Vergnügungen, dass wir etwas so Einfaches wie Sonnenlicht nicht werden sehen können? Oder werden wir etwas wahrnehmen und, weil unsere Aufmerksamkeit so lange auf das Halbdunkel und die Schatten gerichtet war, annehmen, es sei doch nur eine weitere Illusion, eine weitere unechte Morgendämmerung.
Ich selbst weiß nicht mehr, worauf ich warten soll. Meine eigenen Träume wurden preisgegeben, zerfetzt, weggeworfen. Vielleicht bin ich bloß ein weiterer Wahrsager mit Prophezeiungen, die der Wind verweht. Anders als Gebetsfahnen ziehen sie weder in dieser noch in der nächsten Welt Aufmerksamkeit auf sich. Viel zu lange schon habe ich auf diese Morgendämmerung gewartet. Ich habe unsere gegenwärtige Trostlosigkeit, unser Vergessen und unser Scheitern gesehen und habe darüber gesprochen, bis meine Worte in der Stille versiegten. Und nun? Kann die kommende Morgenröte real sein? Wird das Sonnenlicht je zurückkehren? Oder sind dies alles nur weitere leere Versprechen, von denen wir so viele schon vernommen haben? Vielleicht ist Lachen alles, was uns bleibt, das Lachen über die Vergeblichkeit eines jeden Traumes, weil das Wirkliche so anders ist, so vollkommen verschieden, so unausweichlich gegenwärtig.
Doch tief in unseren Herzen, zuinnerst in unseren Seelen sehnen wir uns alle nach dieser Morgendämmerung. Auch wenn wir uns und anderen vorgeben, nicht mehr an sie zu glauben, wissen wir doch, dass wir ohne sie nicht leben können. Wir sind am Verhungern und wir sind auf eine Weise verarmt, die wir noch nicht einmal mehr in Worte fassen können. Die Symbole, die unsere Seelen zuvor genährt haben, sind alle verschwunden, und es bleiben nur bloße Worthülsen übrig. Unsere Verarmung dauert schon derart lange an, dass wir so tun, als sei sie normal, als könnten wir sie annehmen, und so übertünchen wir sie mit unseren Wünschen und Fantasien – nicht mit den Träumen unserer wirklichen Imagination, sondern mit Fantasien, die man am besten gleich wieder vergisst. Und jeden Tag schreien unsere Seelen und die Seele der Welt auf, und es fehlt uns der Mut hinzuhören.
Und doch wird diese vergessene und ersehnte Morgendämmerung anbrechen, in unseren Herzen oder in der Welt oder in beidem. Sonst würde die Dunkelheit mit den endlosen Verzerrungen, die sie schafft, alles sein, was uns bleibt. Es gäbe keine Möglichkeit mehr, dass wir uns mit unserem Atem erinnern oder zu der Quelle zurückzukehren, die unser wirkliches Zuhause ist. Sonst .... es ist unerträglich schrecklich, an einen Kreislauf zu denken, der sich zu drehen aufgehört hat und in dieser Dunkelheit, in dieser verschmutzten und fragmentierten Landschaft, die wir in den inneren und äußeren Welten geschaffen haben, stecken bleibt.
Doch was ist diese Morgendämmerung, auf die wir hoffen und die wir doch vergessen haben? Wird sie mit dem Schrei eines Herolds anbrechen, mit Engeln des Lichts und der Herrlichkeit, mit Zerstörung und sengendem Licht? Wird sie mit der sanften Zärtlichkeit der Berührung eines Liebenden kommen oder mit der Güte einer Mutter? Wird sie sich, weil unsere Aufmerksamkeit auf etwas anderes gerichtet ist, unangekündigt in unser Bewusstsein stehlen? Wird uns überhaupt gestattet sein, sie zu sehen, oder sind unsere Vergehen so groß, dass uns unsere Erlösung und die Erlösung der Welt verborgen bleiben wird, so wie es Moses nicht gestattet war, das verheißene Land zu betreten? Von uns kann es nicht abhängen – wir haben schon so viele Gelegenheiten verpasst – wieder und wieder waren wir abgelenkt, gerade dann, wenn die Zeit kam, teilzuhaben. Wir haben es vermieden, unsere wirkliche Verantwortung wahrzunehmen. Doch wäre es auch möglich, dass es überhaupt nicht um uns geht, aller Selbstüberhebung zum Trotz, die uns denken lässt, dass wir im Zentrum allen Geschehens stünden?
Die Morgendämmerung wird auf ihre eigene Weise anbrechen. Sie wird dem Tag zugehören, der Gott gehört, zu diesem Geheimnis, das allem, was existiert, zugrunde liegt. Wie könnte es auch anders sein? Es lohnt sich nicht, auf eine Morgendämmerung, die der Menschheit zugehört, zu warten, sie zu erflehen. Die Morgenröte muss dem Wesen zugehören, das wir das Göttliche nennen. Es ist nicht unser Lebenskreislauf, so sehr wir auch denken, dass wir die Mitte seien, um welche sich die Sonne täglich dreht. Diese Welt mit all ihrem Chaos und ihrer Schönheit ist etwas so Göttliches, wir würden erzittern, könnten wir auch nur einen Augenblick lang einen Blick auf sie werfen. Und dieses Göttliche ist die Morgenröte, die anbricht. Es ist das Lied, auf das unsere Herzen warten, dieses Lied, das wir vielleicht mit der ganzen Schöpfung zusammen werden singen dürfen.
Ja, wir haben jede Chance verpasst. Ja, in unserer Arroganz haben wir uns angemaßt, dass die Welt uns gehört und wir sie plündern und ausrauben dürfen. Wir haben so viele Missetaten begangen. Doch was bedeuten diese Vergehen angesichts des Wunders und der Gnade dieses Ewigen Wesens? Nur dieses Eine Wesen ist wirklich, und schon viel zu lange haben wir unter der Illusion des Getrenntseins gelitten – es ist Zeit, uns zu erinnern und zu der Einheit zurückzukehren, aus der wir – so erzählen es unsere Mythen – verbannt sind. Es ist Zeit, diesen Mantel der Trennung abzulegen, der die Hybris unserer gegenwärtigen Ideologie, unsere Fixierung auf uns selbst, verursacht hat. Diese Morgendämmerung ist eine Rückkehr zur Einheit und eine Verneigung vor Gott, das Erkennen eines Sonnenlichtes, das wirklich ist und noch nicht einmal von den Wolken unseres egozentrischen Selbst verdeckt werden kann.
Wir werden einen Preis zahlen müssen; für ein Vergessen wie das unsere wird es immer einen Preis zu zahlen geben. Wir können das Göttliche nicht von uns weisen und zulassen, dass wir mit unserer Gier Seine Welt so sehr verwüsten, ohne dass es eine Form von ausgleichender Gerechtigkeit geben wird. Wir sind nicht mehr Kinder, die leben ohne Verantwortung zu übernehmen oder Konsequenzen zu tragen. Doch nicht darauf sollten wir hauptsächlich unser Augenmerk richten. Wir sollten dankbar sein, dass es uns erlaubt ist, gegenwärtig zu sein, wenn die Morgenröte erscheint, dankbar, dass wir Teil dieses anbrechenden Morgens sein dürfen – denn das Mysterium der Einheit bedeutet, dass wir – wie alles andere - zu dieser Morgendämmerung gehören, auch wenn wir über den freien Willen verfügen, uns abzukehren. Wie immer sind es unsere Wachheit, unsere Aufmerksamkeit und Präsenz, derer wir wirklich bedürfen, wenn das Licht in unsere Herzen und in die Welt gelangt. Seine Ankunft ist vielleicht so dramatisch, dass wir sie nicht ignorieren können oder so ruhig und heimlich, dass sie die Dunkelheit mit sich wegträgt, einem Dieb gleich, den man erst im nachhinein bemerkt. Oder vielleicht ist sie so einfach wie eine Geburt, bei welcher der Schmerz den Weg zu Freude und Liebe freigibt. Es kommt einzig darauf an, dass unsere Augen offen und wir in diesem Augenblick gegenwärtig sind, und dass unsere Herzen und unser Geist hoffentlich Gott zugewandt sind.