Übersetzung der Transkription des englischen Vortrages Where the Two Seas Meet: Meditation
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Ich habe davon gesprochen, wie man im Herzen eine Beziehung mit Gott eingeht und wie man auf Gottes Stimme hört. Natürlich ist es sehr wichtig, Unterscheidungsvermögen zu haben, weil das Ego -- wie viele von euch wohl selbst festgestellt haben -- sich sehr leicht für die Stimme Gottes hält.
Das Ego ist der Meister der Illusion. An einem gewissen Punkt ist es in der Tat sehr hilfreich, einen Lehrer zu haben, der dabei behilflich ist, heraus zu spüren, welches die Stimme Gottes ist und welches die Stimme des Egos, das sich spiritualisiert. Andernfalls hat das Ego Hochkonjunktur und kann uns täuschen in Bereichen, zu denen wir zuvor keinen Zugang hatten. Das gilt es zu beachten.
Irgendwann lernt man, meistens durch Fehler, die Stimme des Egos und die Stimme des Selbst oder die Stimme Gottes zu unterscheiden. Sie sind verschieden.
Nun haben wir Zeit für Fragen.
F1: Genau dies ist meine Frage, wie kann man dies auseinander halten. Ist die Stimme Gottes in der Regel besonnener, und das Ego gibt schneller eine Antwort? Und dann, wenn man tiefer in die Erfahrung hinein geht oder tiefer in diese Stille, kommt etwas anderes an die Oberfläche? Könntest du uns vielleicht irgendwie helfen, das besser zu verstehen?
LVL: Ob ich euch in irgendeiner Weise helfen könnte, die Stimme des Egos von der Stimme Gottes zu unterscheiden?
Meiner Erfahrung nach haben sie unterschiedliche Schwingungen. Man lernt, dies zu unterscheiden, wenn man achtsam zuhört. Das einfachste Unterscheidungsmerkmal ist, dass das Ego normalerweise ein Eigeninteresse hat. Es will etwas für sich, und die Stimme Gottes will das nicht.
Und, wie du gesagt hast, ist die Stimme Gottes besonnener und wohl auch subtiler. Doch das Ego kennt Mittel und Wege um vorzugeben, die Stimme Gottes zu sein. Denkt daran, es ist euer Ego und euer Verstand und kann deshalb nach eigenem Belieben etwas kreieren. Man kann dem Ego sehr leicht auf den Leim kriechen.
Ich denke, letztendlich muss man auf etwas jenseits von einem selbst vertrauen. Deshalb ist es sehr hilfreich, einen Pfad zu haben und einen Lehrer, denn man ist in etwas gehalten, das grösser ist als man selbst. Andernfalls, glaube ich, verliert man sich sehr schnell.
F1: Aber der Lehrer verweist einem doch immer wieder auf sich selbst, oder?
LVL: Der Lehrer tut so allerlei. Der Lehrer richtet hoffentlich ein Licht auf das Selbst und nicht auf das Ego.
F2: In deinem Vortrag hast du davon gesprochen, dass dieser Pfad die Leute darin unterrichtet, wie sie aus unterschiedlichen mystischen Zuständen und Grenzerfahrungen zurückkommen können. Darüber möchte ich gerne etwas mehr erfahren.
LVL: Ja, das ist tatsächlich sehr wichtig. Wie ich in meinem erstem Vortrag(1), ausgeführt habe, gibt es im Sufismus traditionellerweise zwei Pfade. Der eine ist der Pfad der Ekstase oder Verzückung, der andere der Pfad der Nüchternheit. Der Naqshbandi Pfad, dem ich zugehöre, ist der Pfad der Nüchternheit, der viel Wert darauf legt, dass man aus den inneren Zuständen wieder zurückkehren und sich verantwortungsbewusst im eigenen Leben bewegen kann. Das bedeutet gewissermassen auch, dass gewisse Zustände nicht gegeben werden, solange man nicht eine gewisse Reife erreicht hat. Ich hatte z.B. viele, viele Jahre einen Todeswunsch und Frau Tweedie sagte mir, dass mir gewisse Zustände nicht gegeben wurden, solange ich diesen Wunsch hatte, weil ich sonst nicht zurückgekehrt wäre. So wird einem sozusagen der Zugang zu gewissen Zuständen zuerst verwehrt. Gewisse Türen werden nicht geöffnet, bis man reif genug ist, um zurückkehren zu können. Und natürlich passt der Lehrer auf. Ich habe erwähnt, wie wichtig Unterscheidungsvermögen ist. Es gibt viele spirituelle Illusionen, ganz besonders in dieser Kultur, die in erster Linie eine gewisse Naivität bezüglich Spiritualität hat, weil sie so wenig Erfahrung damit hat, und dann ebenfalls auch, weil sie voller Illusionen ist. Es ist eben das Land, welches Hollywood hervorgebracht hat, und es wimmelt von Illusionen, die man wohl in einem kleinen indischen Dorf nicht in gleichem Ausmass antreffen würde. Deshalb braucht es eine Art Reifeprozess, um zwischen einer spirituellen Illusion und einer wahrhaftigen spirituellen Erfahrung unterscheiden zu können, damit man sich nicht verfängt.
Es gibt eine Vielzahl spiritueller Illusionen, die in einer illusionären Welt tatsächlich existieren. Man kann sich also dort aufhalten und sogar denken, man habe Meditationszustände.
Aber wie bereits gesagt, gibt es diese beiden Pfade. Der eine ist der Pfad der Ekstase -- man geht einfach in diese Zustände und lässt sich mittragen --, der andere Pfad der Nüchternheit, dem Junayd in Bagdad zugehörte. Es muss möglich sein, jederzeit aus diesem Zustand herauszukommen und in diesem Bewusstsein, in dieser Welt zu funktionieren.
Schwierige Lebensumstände können einen zurück in diese Welt zwingen. Andernfalls braucht es Willensstärke. Man muss auch lernen, überhaupt nicht an spirituellen Zuständen zu haften. Denn es ist ein Zeichen von Reife, der Entsagung entsagen zu können, seinen spirituellen Zuständen entsagen zu können und zurückzukommen. In der Regel stellt uns die Welt zur Verfügung, was man braucht. Jemand erhält z.B. einen Strafzettel wegen Geschwindigkeitsübertretung oder so etwas Ähnliches. Oder regt sich wegen etwas Banalem sehr auf und wird so zurückgebracht, wenn Willensstärke dazu nicht ausreicht, weil diese inneren Zustände sehr süchtig machen.
Es ist dort so schön. Dort gibt es Welten von Licht. Sie sind einfach wunderschön. Und dies muss geopfert werden um zurückzukommen, zurückzukommen zu den Banalitäten dieser Welt. Im besten Fall ist da die eigene Familie, die uns hier braucht und wir müssen die Füsse auf dem Boden haben und mitten im Alltag stehen. Oder der Job verlangt dies. Oder der Lehrer lehrt uns dies und schärft uns immer wieder ein: "Ihr müsst zurückkommen. Ihr müsst zurückkommen."
Denn meine Beobachtung ist, dass Leute, die dies nicht tun, nicht weiterkommen. Denn auf diesem Pfad wird eine Energie gegeben, und wenn man diese nicht durch die Füsse erdet, kann sie im Innern steckenbleiben. Wenn man auf dem Pfad fortschreitet, wird einem mehr und mehr Energie gegeben, mehr und mehr Liebe, mehr und mehr Licht oder wie sonst man es nennen mag.
Die Energie kommt durch die höheren spirituellen Zentren, und ein Teil davon bleibt dort. Aber ein Teil muss herunterkommen und geerdet werden. Die Energie fliesst tatsächlich durch die Chakren in den Fusssohlen. Ich weiss nicht, ob euch das bekannt ist, aber genau wie auf den Handflächen, gibt es auf den Fusssohlen Chakren, welche das Herzchakra spiegeln. Sie reichen bis in die Erde und halten uns hier in dieser Inkarnation.
Im Sufismus, insbesondere auf dem Pfad der Nüchternheit, muss man die Fähigkeit haben, mit beiden Füssen fest auf dem Boden zu stehen. Wenn dies nicht durch die äusseren Lebensbedingungen geschieht, so wird man hoffentlich durch den Lehrer herunter gebracht und herunter gebracht und abermals heruntergebracht. Denn andernfalls bleiben gewisse Türen in den inneren Welten verschlossen.
Gewisse Zustände müsst ihr euch selber durch Meditation, durch Streben erschliessen. Aber dann gibt es diese Zustände jenseits davon, zu welchen ihr nur durch jene Zugang erhält, welche sich auf den inneren Ebenen um euch kümmern. Wenn sie sehen, dass ihr nicht fähig seid zurückzukommen, dann verwehren sie euch den Zugang dazu.
Es ist nicht einfach. Manchmal braucht es sehr viel Willenskraft, und manchmal einen gewissen Verzicht, um sich selbst zurückzubringen. Aber es ist möglich. Es ist so überliefert.
Mir ist aufgefallen, dass die meisten Bücher davon sprechen, wie man gewisse Zustände erreicht. Aber sie erklären nicht, was zu tun ist, wenn man sie erreicht hat und wie man dann dort lebt. Deshalb gefällt mir das Werk von Junayd so sehr, denn er spricht genau darüber. Er spricht über einen Zustand von "verweilen, nachdem man weggetreten ist" und darüber, wie man wieder zurück in diese Welt kommt.
So gibt es diese Überlieferung, die dabei behilflich ist. Man muss also aufmerksam sein und auch die äusseren Umstände beobachten. Wenn man bemerkt, dass man in dieser Welt nicht so funktioniert, wie man sollte, kann man nicht einfach sagen: "Oh, ich bin in einem spirituellen Zustand." Man muss einen Weg finden um zurückzukommen. Oft benutzt man dazu Willenskraft und entsagt dem spirituellen Zustand, was nicht so einfach ist.
F3: Ist es möglich, diese inneren Zustände ohne einen Lehrer zu erreichen?
LVL: Das ist eine sehr gute Frage.
Sicherlich gewisse Zustände am Anfang. Ich glaube, es ist z.B. möglich, einen Zugang zum Selbst zu haben. Es gibt zurzeit hier in Amerika eine ganze spirituelle Bewegung, Advaita Tradition genannt, bei der Menschen ein spontanes spirituelles Erwachen in ihr wahres Selbst erfahren sollen. Das ist in gewisser Weise, was ich mit sechszehn erlebt habe.
Diese anfänglichen Zustände, die kann man, glaube ich, erreichen. Die wirkliche Frage ist aber, wie man mit ihnen lebt und wie man sie in die tieferen Vehikel des Bewusstseins integriert, so dass man ein ausgeglichenes Alltagsleben führen kann. Wie man in erster Linie vermeidet, in spirituellen Illusionen gefangen zu bleiben -- und das passiert sehr leicht -- und wie man sich mit diesen spirituellen Zuständen weiterentwickelt. Denn tatsächlich ist es dieses Verbinden von Niederem und Höherem -- die alltägliche, menschliche Erfahrung und die göttliche Erfahrung -- welche es dem Menschen ermöglicht, sich zu entwickeln. Deshalb habe ich dieses Bild der beiden Ozeane, die aufeinander treffen, benutzt.
Ich denke, man braucht sowohl einen Lehrer als auch eine Tradition, welche über Wissen darüber verfügt, wie der spirituelle Prozess funktioniert. Von dem Moment an, wo man spirituelle Zentren in sich zum Erwachen bringt, schwingt man sich in diese ganz andere Dimension des Menschen ein.
Ich kann euch dies anhand meiner eigenen Erfahrung illustrieren. Mit siebzehn habe ich Hatha Yoga praktiziert und dabei meine Kundalini geweckt. Ich bin zu meiner Yogalehrerin gegangen und habe gefragt, was ich nun machen solle. Sie meinte: "Keine Ahnung." Seht ihr! Also das war nicht sonderlich lustig. Ich bin oft halb verrückt geworden deswegen. Schliesslich erhielt ich Hilfe und konnte dadurch diese Energie erden und ausgleichen. Es hat ungefähr fünf oder sechs Jahre gedauert.
Man kann also anfänglich ein Bewusstsein für gewisse spirituelle Zustände erlangen, aber man braucht ein Gefäss, um sich darin zu bewegen. Wie man das Höhere mit dem Niederen verbinden kann, dazu gibt es überliefertes theoretisches, aber auch viel praktisches Wissen.
Sobald man reif genug ist, um sein spirituelles Selbst zu erden und diese höheren Bewusstseinszustände zu leben, beginnt meiner Erfahrung nach die Reise erst richtig.
Ich weiss nicht, ob ihr an Reinkarnation glaubt, aber auf unserem Pfad tun wir das. Und oft verbindet man sich im Moment, wo man das spirituelle Leben aufnimmt, mit dem, was man vorher war -- man beginnt wieder dort, wo man in der vorhergehenden Inkarnation angelangt war. So kann man sich in jene Zustände einschwingen, die man am Ende des letzten Lebens erreicht hatte, denn sie sind in der Seele gegenwärtig. Aber dann muss man diese Zustände einbinden und sie auch wirklich in diese Inkarnation bringen, die sich stark von der letzten Inkarnation unterscheiden kann. Man ist vielleicht in einem ganz anderen Teil der Welt oder hat einen anderen Körper, oder man ist nicht mehr ein Mann, sondern eine Frau. So muss man lernen, diese Erfahrungen einzubinden. Aber es ist ein Anfang. Und man kann sich über diese Zustände hinaus weiterentwickeln. Aber dies ist nicht etwas, das ich ohne einen Lehrer machen möchte, denn das spirituelle Gleichgewicht des Menschen ist sehr fein abgestimmt. Zu viel Energie zu haben, ist nicht wünschenswert. Zu wenig Energie aber auch nicht.
Dann gibt es diese Orte, wo man nur mit einem Lehrer hingelangen kann. Auf unserem Pfad geschieht dies durch Verschmelzung. Die spirituelle Essenz des Schülers wird in der spirituellen Essenz des Lehrers aufgenommen. So wird man buchstäblich in eine andere Realität mitgenommen. Man wird aufgenommen, man verschmilzt mit dem Lehrer. Und dann geht die Reise in diesem Gefäss weiter. Und es gibt da ganz klare Richtlinien, wie dieser Prozess abzulaufen hat.
Man kann also anfänglich Zugang zu gewissen Zuständen erhalten, aber es ist hilfreich, wenn einem dann gezeigt wird, wie man diese leben kann. Um die Reise fortzusetzen, braucht man aber meines Erachtens wirklich einen Lehrer. Ich kann mir nicht vorstellen, wie man es ohne einen Lehrer schaffen kann. Und ich sehe auch nicht ein, wieso man es ohne einen Lehrer tun möchte. Deshalb hat Rûmî Shams gebraucht. Er sagte: "Du kannst ohne Lehrer keinen einzigen Schritt auf dem Pfad tun. Ich habe es hundertmal versucht und bin immer gescheitert." Ibn 'Arabî hat das sehr weise ausgedrückt: "Du brauchst nicht einen grossen Lehrer. Du brauchst einfach jemanden, der einen Schritt weiter ist als du."
F4: Ich bin nicht damit vertraut, wie die Sufis Traumarbeit praktizieren, und mich interessiert, inwiefern sich diese Traumarbeit vom Ansatz C.G. Jungs unterscheidet.
LVL: Ich habe darüber ein ganzes Buch geschrieben...
Im Sufismus gibt es eine eigene Tradition im Umgang mit Träumen. Der Naqshbandi Pfad, dem ich zugehöre, misst der Traumarbeit grosse Bedeutung bei. Es ist überliefert, dass Bahâ ad-dîn Naqshband nie einen Schüler angenommen hat, solange dieser keinen Traum hatte. In der Naqshbandyya gibt es ein ganzes Lehrwerk zu Traumdeutung.
Als ich diese Arbeit begann, ich war damals dreissig, hatte ich einen Traum, der mir bedeutete, die Werke von C.G. Jung zu lesen. Während vieler Jahre hatte ich nichts gelesen. Ich war neunzehn, als ich meine Lehrerin traf, und ich hatte viele esoterische Bücher gelesen. Aber dann musste ich all dieses Buchwissen loswerden. Es war mir nicht gestattet, irgendetwas ausser Romanen und Gedichten zu lesen. Bis eben zu diesem Traum. So las ich also C.G. Jungs Gesammelte Werke. Man beginnt bei Band 5 und liest sich durch bis Band 18. Dann begann ich, den jungschen Ansatz einfliessen zu lassen in die im Sufismus überlieferte und praktizierte Traumarbeit, mit welcher ich in den Jahren mit meiner Lehrerin vertraut geworden war.
Der Grund, weshalb mir bedeutet wurde, Jung zu studieren war, so denke ich, dass die Psychologie der Menschen, die im Mittleren Orient leben -- da wurde die Sufi Traumarbeit ja entwickelt -- sich massgeblich von der Psychologie der Menschen im heutigen Westen unterscheidet. Hier bei uns ist z.B. das Ego stärker ausgebildet. Wir haben ein viel grösseres Bewusstsein für das individuelle Selbst. Und weil Jung sein Verständnis von Psychologie auf der Alchemie aufbaut, gründet dieses auf der westlichen Psyche, welche sich in ihrer Struktur von der östlichen Psyche unterscheidet.
Soweit ich dies beurteilen kann, ist die jungsche Psychologie die einzige westliche Psychologie, welche den Prozess der spirituellen Transformation untersucht, die im Selbst gründet. Jung hat diese Psychologie nicht entwickelt, sondern er hat den alchemistischen und gnostischen Prozess der individuellen Transformation in einer psychologischen Sprache gedeutet.
C.G. Jung, der selber ein Gnostiker war, hat uns unser eigenes Wissen von psychologischer Transformation und Traumarbeit wiedergegeben, welches zum Erbe der frühen Gnostikern gehörte und das durch die Kirche unterdrückt worden war. Wenn man eine westliche Psyche hat, kann man sie nicht in ein östliches psychologisches Modell pressen, weil die Psyche eine andere Grundstruktur hat.
Teil meiner Arbeit war es also, diese beiden zusammenzubringen. Und dann gibt es hier die psychologische Traumarbeit und da die spirituelle Traumarbeit. Sie sind unterschiedlich, treffen sich aber auch. Denn wenn man im Westen auf eine wahrhaftige spirituelle Reise geht, muss man auch psychologische Arbeit machen, ganz speziell Schattenarbeit. Ich weiss nicht, wie die Situation sich heute präsentiert, aber in der Zeit, als die Sufi Lehrbücher geschrieben wurden, war die östliche Psyche anders. Die Menschen waren damals der kollektiven Psyche viel näher. Sie waren nicht so stark individualisiert. Deshalb gestaltet sich die Arbeit anders.
F5: Könntest du etwas über die Vernichtung erzählen -- und über die Rückkehr?
LVL: Die Vernichtung und die Rückkehr nach der Vernichtung
F5: Wie fügen sie sich zusammen?
LVL: Auf dem Sufi Pfad findet ein Prozess der Vernichtung, der vollständigen Auslöschung oder Auflösung von dem, was wir ein individuelles Selbst nennen, statt. Dies geschieht durch die Energie des Pfades. In den meisten Fällen wird das Selbst allmählich durch Liebe aufgelöst. Liebe löst die meisten Dinge auf, wenn genug davon gegeben wird.
Im Zustand der Verliebtheit fühlt man das, denn die eigene Identität ist nicht mehr so unantastbar. Wenn man sich in einen anderen Menschen verliebt, beginnt die Liebe, das Bild, welches man von sich selber hat, zu verändern. Auf diese Weise löst die Liebe das Ego auf. Man verliert das Gefühl für die eigene Identität. In einem Gedicht von E.E. Cummings -- ich bin überzeugt, er war Mystiker -- gibt es diese wunderschönen Zeilen:
was ich selbst zu sein mir schien durch dich verlierend, finde ich
selbst so unbeschreiblich mein; jenseits
aller freuden, die der sorge innewohnen
und der hoffnung ureigen ängste fern(2)
Man verliert das Gefühl für die eigene Identität. Das Kleinere geht im Grösseren auf. Die ist ein Prozess der Vernichtung. Manchmal wird er aktiv vorangetrieben oder ein gewisser Teil davon. Dies ist sehr schmerzhaft. Mein Sheikh hat es so ausgedrückt: "Das Ego löst sich nicht unter Lachen und mit Streicheleinheiten auf, es muss unter Schmerzen und mit Tränen verjagt werden."
Es gibt Überzeugungen, die für das Ego identitätsstiftend sind und an denen es stark festhält. Oftmals braucht es da einen Bruch. Frau Tweedie beschreibt zum Beispiel in ihrem Buch, warum der Glaube an Karma für sie sehr wichtig war und wie sie diesen aufgeben musste. Dieser Glaube war für ihre Identität massgebend, und wir alle halten uns an gewissen Dingen fest, weil sie für unsere Identität massgebend sind. Entweder unser Lehrer bricht die Anhaftung oder es sind äussere Erfahrungen, die zu einem Bruch führen/die diese wegbrechen lassen. Das kann sehr schmerzhaft sein. Schliesslich geht das Kleinere im Grösseren auf, denn das Selbst ist nicht unser Ego. Es ist viel grösser als unser Ego, und es funktioniert ganz anders.
Wie ich bereits erwähnt habe, kommt, wenn man viel meditiert, durch die Meditation ein Licht hinein, denn man hat Zugang zu einer anderen Realität. Dies ist für diesen Auflösungsprozess hilfreich. Dieses Licht dringt in die Blockaden, ganz besonders in die Blockaden in unserem Bewusstsein, und löst diese auf.
Dieser Prozess der Vernichtung dauert meiner Erfahrung nach bei den meisten Leuten etwa zwanzig Jahre. Andernfalls, wenn es zu schnell ginge, könnte man verrückt werden. Man kann das Bewusstsein eines Menschen brechen, aber dann zerspringt er in tausend Teile.
Dann muss das Bewusstsein auf andere Weise neu geschaffen werden, damit man in der Welt funktionieren kann. Es wird auf gewisse Weise um das Mandala des Selbst herum geschaffen. So agiert das Egobewusstsein nicht länger gegen das Selbst und versucht, gegenüber dem Selbst seine Identität zu behaupten, sondern wird integraler Bestandteil des Selbst.
Ich habe mich damit in den letzten Jahren sehr intensiv beschäftigt, denn mir scheint, dass das Göttliche in dieser Welt nur durch das Ego eine einzigartige Erfahrung machen kann. Das Ego eines jeden Menschen macht eine einzigartige Lebenserfahrung, die sich von jener jedes anderen Menschen unterscheidet.
Am Anfang ist das Leben wie ein Traum, es ist eine Fantasie, geschaffen durch das Ego. Es ist eine Illusion. Aber wenn dieses Illusionen schaffende Ego aufgelöst ist -- Adyashanti spricht sehr oft darüber, wie dies abläuft, das Ego und der Verstand, die diese von Ängsten geprägte Illusion schaffen und wie man das hinter sich lassen kann -- dann bildet sich das Ego neu, um gewissermassen das Selbst zu manifestieren. Denn auf der Ebene des Selbst gibt es beispielsweise kein Du und Ich.
Das war eine Erfahrung, die Frau Tweedie hatte, als ihr Lehrer starb. Sie sagte, sie sei einfach an einem Ort der Einheit gewesen. Alles war dasselbe. Alles war eins. Alles war göttlich. Sie musste dann sechs Monate im Himalaya verbringen, damit sich ihr Ego wieder bilden konnte.
Als ich 23 war und die Erfahrung machte, auf der Ebene der Seele aufzuwachen und dort gegenwärtig zu sein, hat es auch ungefähr sechs Monate gedauert, bis ich allmählich zurückgekommen bin. Ich sass einfach den ganzen Tag in einem Stuhl, denn das Selbst kennt keine Zeit, ohne Egobewusstsein. Ich war jung und lebte mit meiner Mutter. Gelegentlich kochte sie etwas für mich, aber ich hatte kaum Interesse daran. Ich war an einem Ort der Glückseligkeit. Es gab keine Zeit. Es gab kein Innen und Aussen. Und man will sich auch mit niemandem abgeben, denn man ist einfach in diesem Zustand gegenwärtig.
Dann brachte etwas mich allmählich zurück. Eigentlich habe ich die Romane von Charles Dickens dazu benutzt. Vier Monate lang las ich sämtliche Werke von Charles Dickens, und mein Verstand und meine Psyche bildeten sich wieder. Vielleicht erklärt das gewisse merkwürdige Dinge, die ich in mir trage (Gelächter). Ich lebte einfach vor mich hin und las Dickens. Dann war das eines Tages zu Ende, und ich musste wieder aufs College zurück.
Dieses Ego ist anders, denn es bekämpft das Selbst nicht mehr. Es ist ein Ausdruck des göttlichen Selbst. Und das Höhere Selbst ist mit allem eins. Du bist mich, und ich bin du, und alles ist eins. Alles ist göttlich, und ich bin die Blume, und die Blume ist mich… Es ist wunderbar, aber man kann so nicht leben. Und man kann so auch keine einzigartige Lebenserfahrung haben.
Ich bin der Auffassung, dass es, ganz besonders in der heutigen westlichen Welt, Teil unserer Aufgabe ist, unsere einzigartige Lebenserfahrung einzufordern und diese zu leben. Soweit ich das abschätzen kann, kommt das Ego zurück, oder wird neu gebildet als Teil des Selbst, durch welchen man das eigene Selbst, oder, genauer gesagt, durch welchen etwas unser einzigartiges Selbst erfahren kann.
Eine der ersten Konferenzen, welche ich mit Frau Tweedie besuchte, war die Rainbow Conference, die 1983 in der Schweiz, in Interlaken, stattfand. Der Dalai Lama war dort. Frau Tweedie war Referentin und wurde eingeladen, ihm eine Frage zu stellen. Sie konnte sich nicht erinnern, ihm damals diese Frage gestellt zu haben, aber was sie sagte, war, dass sie ihm zwanzig Jahre zuvor in Indien ebenfalls eine Frage gestellt hatte, nämlich: "Bleibt etwas übrig im Zustand von Nirvana?"
Er antwortete, dass er zu jenem Zeitpunkt ein junger Mönch gewesen sei und die Frage aufgrund des Wissens, das er sich beim Studium der Schriften angelesen hatte, mit "Ja, es bleibt etwas übrig" beantwortet hatte.
Nun, viele Jahre später, könne er die Frage aus eigener Meditationserfahrung heraus beantworten und zwar folgendermassen: "An diesem Ort, im Nirvana, bleibt zu guter Letzt die Essenz der Essenz der Essenz der menschlichen Erfahrung."
Es bleibt etwas von unserer eigenen menschlichen Erfahrung übrig. Es ist nicht nur vollständige Leere. Es ist der Kern des Kerns des Kerns von dem, was man ist, dieser ganz einzigartigen Erfahrung, nachdem man weggegangen und wieder zurückgekehrt ist. Der Kern des Kerns des Kerns dessen, was man erfährt, nachdem man aufgelöst wurde.
Was ist diese so reine Essenz, die man ist, die das eigene Ego einschliesst, aber nicht in der Form, wie man sich dieses vorstellt? Auf gewisse Weise ist es das Ego, das vollständig poliert und geläutert ist. Aber gleichzeitig ist es die Summe aller Erfahrungen eines ganzen Lebens verdichtet zu einem einzigen Korn. Das ist, was übrig bleibt. Und das ist sozusagen auch unser Beitrag.
Wenn man einmal eine tiefe mystische Erfahrung gehabt hat -- oder eine tiefe Meditationserfahrung -- geht diese nicht mehr verloren. Die Erfahrung verändert die Hirnzellen. Wenn man die Leere erfahren hat oder sogar eine direkte Erfahrung des eigenen Selbst, eine Einheitserfahrung, gehabt hat, sieht das Gehirn anders aus. Man hat ein anderes Bewusstsein, und dieses verändert die chemische Struktur des Gehirns. Was bewirkt, dass das Gehirn nicht mehr auf dieselbe Weise funktioniert wie zuvor.
Aber die wichtige Frage ist -- und da kommt erneut dieses Bild von den zwei Ozeanen, die aufeinander treffen, ins Spiel -- wie diese beiden Erfahrungen, die göttliche und die menschliche Erfahrung, zusammengebracht werden können. Denn aus den Worten des Dalai Lama lässt sich schliessen, dass es genau diese Essenz einer einzigartigen Lebenserfahrung ist/ eines einzigartigen, erfahrenen Lebens ist, welche letztendlich übrig bleibt.
Und eben diese Frage ist wesentlich auf jedem spirituellen Pfad: wie lebt man all dies nicht länger unbewusst, sondern bewusst? Wie hat man ein waches Bewusstsein für die göttliche Essenz, die auch die menschliche Essenz ist, anstatt alles zu verschlafen.
Meditation: Fragen und Antworten Ende
Fussnoten
(1) "An Introduction to Sufism"
(2) E.E. Cummings, 73 Poems, "silently if, out of not knowable" (unautorisierte Übersetzung)