Dies ist eine deutsche Übersetzung des Artikels Witnessing War
Krieg ist wieder in Europa ausgebrochen mit einer anlasslosen, ungerechtfertigten Invasion. Gewalt und Grausamkeit – Zivilisten, die in Kellern Zuflucht suchen, Leichen auf den Straßen, Gebäude, die unter Raketenbombardements einstürzen. Das Abschlachten unschuldiger Menschen, wieder eine Geschichte der Eroberung, die Leben aus keinem anderen Motiv zerstört als aus Angst und Machtstreben.
Das sind nicht nur Nachrichten, nur Bilder im Fernsehen, Reporter in fernen Städten. In der Nacht, als die ersten Bombardements begannen, wusste ich, dass dies das Ende unserer Lebensweise, wie wir sie bisher kannten, war – sogar hier in unserer kleinen Community am Ozean, eine halbe Welt weit weg, wo die einzige Gefahr darin besteht, einem Rotwild zu begegnen wie heute Morgen, als ich für zwei von ihrer Mutter getrennte Kitze bremsen musste. Die sich über Monate aufbauende Finsternis beobachtend war dieser Krieg aus meiner Sicht unvermeidbar, auch wenn er katastrophal ist und niemand weiß, wie er enden wird.
Klar allein ist, dass sich wieder einmal Finsternis und Licht und Freiheit gegenüberstehen. Die Leute reagieren mit so viel Freundlichkeit und Fürsorge, öffnen ihre Häuser und Wohnungen für die Flüchtlinge, sich verloren fühlende Menschen, Fremde mit nur einer Tasche voll Habseligkeiten, da sie alles zurücklassen mussten oder alles zerstört worden war. Doch die Finsternis ist allgegenwärtig, erkennbar in Form von Raketen und Panzern, Lügen und Propaganda, Fake News und Repression.
Seit 1946 hat es 285 verschiedene bewaffnete Konflikte gegeben, vom Korea-Krieg bis zum vor kurzem stattgefundenen Bürgerkrieg in Syrien. Immer bringen sie Brutalität und Tod mit sich, seien es die Schlächtereien mit Macheten in Ruanda oder Napalm in Vietnam. Die Khmer Rouge in Kambodscha töteten über eineinhalb Millionen Menschen, fast vier Millionen wurden im Kongo umgebracht – ethnische Säuberungen, Genozide, Bürgerkriege. Jetzt werden wieder Massengräber ausgehoben, und diesmal sieht es über die sozialen Medien, TikTok und Telegram die ganze Welt. Wieder wächst die Finsternis durch den sichtbaren Missbrauch von Macht, und diesmal dichter an uns heran. Wir können deutlich miterleben, wie die Geburtsklinik zerbombt wurde, können die hochschwangere Frau mit Blut auf ihrem Gesicht sehen, die kurz darauf zusammen mit ihrem Baby stirbt.
Hier in unserem ruhigen Städtchen am Ozean ist alles so weit weg, und doch ist es auch hier; man kann es in der Luft fühlen, sogar im trüben Nebel. Gespenster ziehen umher – sie kennen keine Entfernungen. Lauter als das Geschrei der Seevögel kann ich die Schreie der Menschen hören. Etwas Substanzielles ist zerbrochen, nicht nur Frieden und Wohlstand, nicht nur die Träume von einem besseren Leben oder sogar die einfachen alltäglichen Dinge wie Kinder zur Schule bringen oder Milch im Laden kaufen. Eine Lebensweise ist überfallen worden, allein mit der Absicht, ihre Freiheit zu zerstören, allein aus Gründen der Macht. Genau das passiert, wenn die Finsternis sich ausbreitet. Wenn Geiseln in Krankenhäusern genommen werden, Ärzte und Patienten mit vorgehaltener Waffe. Wenn Leute, die um Brot Schlange stehen, zu Leichen auf der Straße werden.
Wieder einmal wird der Faden der kollektiven Gewalt in unsere Leben eingewoben, doch jetzt verbreitet sich ihr Schatten, ihre wachsende Finsternis über die ganze Welt. Was bedeutet es, wenn eine Hälfte unserer Welt das, was geschieht, leugnet und die Nachrichten über von Raketen getroffenen Wohnungen und Leichen von Zivilisten zensiert und stattdessen Falschmeldungen bringt? Wir sind vielleicht etwas immun gegenüber dem Begriff „Fake News“ geworden, sehen sie als Abwehrstrategie von Autokraten, aber diese Unterdrückung führt dazu, unsere Welt in Licht und Finsternis zu spalten, in Wahrheit und Lügen, Freiheit und Unterdrückung. Hier gibt es keine Differenziertheit, kein Grau, nur eine gewollte Polarität. Das ist wirkliche Spaltung, nicht die Pantomime unserer Kulturkriege. Hierbei geht es um wahre Freiheit, nicht die Anklagen wegen verlorener bürgerlicher Freiheiten, die unsere sozialen Medien füllen.
Wie viele noch werden sterben müssen, bis dieser gegenwärtige Zyklus endet? Und was bedeutet das für unsere kollektive Seele, für unsere kollektive Zukunft? Für eine Mutter, die ihre Kinder verloren hat, für ein Kind, das seine Eltern sterben sah, ist es eine mit Blut geschriebene Tragöde. Was heißt das für die Freiheit, für die Wahrheit? Wird ihr Licht die Verfinsterung überleben? Oder ist die Wahrheit etwas, das wir längst inmitten all der Verschwörungstheorien und Lügen über gestohlene Wahlen verloren haben, dieser Verlust, der jetzt durch menschliches Leiden wieder ausgedrückt wird? Können wir unseren Weg zurück finden? Oder wird diese Gewalt nur einen weiteren Pfad der Tränen hinterlassen, noch mehr Wut, die über Generationen weitergegeben wird?
An der Küste stehend und die Wellen beobachtend versuche ich über den Horizont hinauszuschauen und den Faden zu finden, der gerade in unser kollektives Schicksal eingewoben wird, eingewoben mit Trauer und Hoffnung, eingewoben mit der Güte von Fremden, während die Bomben fallen. Ich verfolge, wie ganz normale Leute für ihr Land und die Freiheit zu den Waffen greifen und der Durchschnittsmensch Wolodymyr Selenskyj in seinem Widerstand gegen die Tyrannei ein unwahrscheinlicher Held wird, „der Diener seines Volkes“. Und ich sehe, wie andere ihr Zuhause für die Flüchtlinge öffnen – meist für Frauen und Kinder, die Männer bleiben, um zu kämpfen. Hier bin ich sicher, es gibt keine Raketen an diesem Himmel, aber die Finsternis ist sehr real wie auch der Kummer in meinem Herzen.
Jene, die durch die Risse in unserer gegenwärtigen Zivilisation schauen konnten, haben diese Finsternis aufsteigen sehen. Sie wurde deutlich in unserem kollektiven Leugnen der Tatsache des Klimawandels, der uns jetzt mit einer sich beschleunigenden Katastrophe konfrontiert, einem Unheil, das in den nächsten Jahrzehnten einen „Atlas menschlichen Leidens“ schaffen wird – ausgelöst durch unternehmerische Gier und Ausbeutung. Diese Verfinsterung wurde auch deutlich in unserer Reaktion auf die Pandemie, die anfangs mit einem Gefühl von Gemeinschaft und Fürsorge einherging, dem Empfinden, dass wir „alle in demselben Boot sitzen“, aber nach kurzer Zeit traten große Anspannungen durch ethnische und soziale Ungerechtigkeit zutage – die Ärmsten litten am meisten – und bald kam es zu noch größerer Spaltung, als die sozialen Medien Falschinformationen und Verschwörungstheorien verbreiteten. Die Finsternis nimmt uns unsere Menschlichkeit und wendet uns gegeneinander und gegen die ERDE selbst.
Das ist die Toxizität der Landschaft, in die wir reisen, gegen die niemand von uns immun ist, und weshalb auch hier in dem Städtchen am Ozean, weit weg von der Ukraine, die Gespenster dieses Kampfes anwesend sind. Unsere Antwort auf diese Finsternis wird entscheidend dafür sein, wie unsere Welt durch diese Schwellenlandschaft in die Zukunft geht. Zumindest können wir klar sehen, dass dies ein Kampf für die Freiheit ist: die simple Freiheit von Unterdrückung, die Freiheit, die eigene Bestimmung zu wählen und seine Kinder ohne Angst vor Bombardierung in den Kindergarten zu schicken. Und mit dieser Freiheit kommt Wahrheit: Es ist keine Freiheit, wenn sie nicht die Freiheit einschließt, die Wahrheit ohne Angst auszusprechen – Geschichten von diesem Krieg zu erzählen, wie sie in den Bildern der sozialen Medien gezeigt werden, oder auch nur zu sagen, dass es ein Krieg ist. Wahrheit und Freiheit gehen Hand in Hand durch diese trostlose Landschaft.
Wo immer wir sind, können wir wahrnehmen, was geschieht, können wir erkennen, dass es nicht einfach ein Krieg in einem anderen Land ist, sondern ein Kampf um die Freiheit an allen Orten. Wir können die Gefahr sehen, dass das Licht verloren geht, dass es in den autoritären, totalitären Ländern bereits nicht mehr vorhanden ist. Wir können wahrnehmen, wie die Finsternis eindringt und auch in denen gegenwärtig ist, die diese Realität leugnen.
Und wir können zulassen, dass unsere Herzen aufbrechen, dass wir den Kummer und das Leiden fühlen für all jene, die fliehen, und all jene, die zurückbleiben. Wir können die ergreifende Musik des Cellisten vernehmen, der in den Ruinen seiner Heimatstadt Charkiw spielt, tollkühner Widerstand und Schönheit inmitten des Schreckens. Einige von uns, besonders die in Europa, sind vielleicht in der Lage, Wohnraum als Zuflucht anzubieten, oder durch mitfühlende Handlungen, die unsere tiefste Menschlichkeit ausdrücken, zu helfen – Lebensmittel und Kleidung und anderes Notwendige dahin zu bringen, wo es gebraucht wird. Und wir können mit unseren Gebeten und Praktiken dem Licht treu bleiben. Die Stille der Seele wird in dem Trommelfeuer des Krieges so sehr gebraucht. Die Sorge füreinander und ein offenes Herz können das noch übrig gebliebene Licht halten und sich der Finsternis entgegenstemmen. Und wir brauchen dieses Licht mehr, als wir meinen, damit wir unseren Weg in den immer finsterer werdenden Jahren, die auf uns zukommen, erkennen können, wenn die Klimakatastrophe uns hart trifft, wenn Millionen mehr Flüchtlinge Zuflucht suchen.
Das Herz kann das Licht halten, das gebraucht wird, um unserer Welt durch diese Zeit zu helfen. Und jetzt verbirgt sich die Finsternis nicht länger, sondern ist ganz offensichtlich. In dem Chaos der Falschinformationen nimmt die Finsternis vielerlei Gestalt an. Sie kann vorgeben, eine Lebensweise, traditionelle Werte zu schützen, obwohl sie immer versucht, zu spalten und zu beherrschen. Und in ihr fehlt etwas, das für uns Menschen essenziell ist. Liebe und Fürsorge füreinander, für unsere Gemeinschaft und für die ERDE stehen im Gegensatz zur Finsternis. Sie sprechen verschiedene Sprachen, fühlen sich völlig anders an. Sie gehören dem an, was heilig in uns ist, der Größeren Liebe, welche uns alle miteinander verbindet. Und das ist es, was uns in der Tiefe unserer Seele und an den heiligen Orten der ERDE hält.
Hier am Ozean jaulen keine Luftangriff-Sirenen, nur das Rollen und sich Überschlagen der Wellen ist zu hören. Im Laden und der Poststelle scheint sich sogar die Angst vor der Pandemie gelegt zu haben. Es ist Frühling und die Narzissen, die ich im Herbst gepflanzt habe, sind zu einem Teppich aus Gelb geworden. Aber ein Schatten zieht über unsere Welt und wir müssen beobachten und bezeugen.