Zweite Geburt*
2. OKTOBER 1961
Heimgekehrt.... Mein Herz jubilierte. Dieses Gefühl der Freude erfaßte mich, kaum daß ich aus dem Zug gestiegen war.
Der große Bahnhof unterschied sich nicht weiter von den vielen anderen, die ich auf meinen Reisen durch Indien gesehen habe—auch hier die eisernen Dachstützen, das von Rauch geschwärzte Dach, der ohrenbetäubende Lärm zischender Dampfloks—ein Zug zog gerade mit viel Gestöhn und Geratter davon —, die üblichen Scharen am Boden kauernder, von ihrer Habe umgebener Gestalten, die geduldig auf die Abfahrt irgendeines Nahverkehrszuges warteten, Kulis, die sich um meine Koffer stritten, die Fliegen, die Hitze. Ich war müde und schwitzte, aber irgendwie, ich kann gar nicht sagen warum, liebte ich diesen Bahnhof; dieses Gefühl, angekommen zu sein, stimmte mich glücklich.
Von einem alten Pferd gezogen, mühte sich der Tonga (eine zweirädrige Kutsche) schon seit über vierzig Minuten in Richtung Aryanagar voran, dem Viertel, wo mein Reiseziel lag. Der Stadtteil wirkte, sogar um diese Zeit, ziemlich sauber. Es war fünf Uhr nachmittags und noch immer brütend heiß.
Ich fühlte mich leicht und glücklich, wie jemand, der nach einer langen Abwesenheit nach Hause kommt. Merkwürdig ... Dieses wundervolle Gefühl der Heimkehr, endlich anzukommen ... Warum nur? Es schien verrückt. Ich fragte mich, wie lange ich wohl hierbleiben würde. Jahre? Für den Rest meines Lebens? Was spielte das schon für eine Rolle. Ich fühlte mich gut. Das war alles, was ich im Augenblick wußte.
Wir zuckelten über eine breite, von Bäumen gesäumte Straße. Stattliche weißschimmernde Bungalows, in Gärten hinter Steinmauern und eisernen Toren verschanzt, verkündeten in großen Buchstaben die Namen von Banken, Versicherungen und technischen Unternehmen—riesige, auf der ganzen Welt bekannte Konzerne. Rechts ein Hauptpostamt, links ein großes Krankenhaus, dann ein ausgedehnter Markt. Kurze Blicke in die Seitenstraßen zeigten mir Reihen von Läden und fahrbare Stände und auf den Gehwegen ausgestellte Ware. Lärm und der für Indien so typische Geruch, eine Mischung aus gebratenem Öl, Knoblauch, Gewürzen und Weihrauch, drangen zu mir herüber. Ich sog die Luft tief ein ... sie war herrlich.
Kanpur. Eine indische Stadt, wie ich sie schon öfter zuvor gesehen hatte. Nichts Besonderes und doch... doch dieses erhebende Gefühl, heimzukehren; es gab keinen vernünftigen Grund dafür... es schien verrückt.
Natürlich, ich war hergekommen, um einen großen Yogi zu treffen, einen Guru (in Hindi und Sanskrit bedeutet guru Lehrer), und ich versprach mir viel von der Begegnung mit ihm. Aber das war sicher noch lange kein Grund, mich so leicht und so kindlich glücklich zu fühlen. Ich ertappte mich sogar dabei, wie ich laut vor mich hinlachte, und dachte: Das ist es... für den Rest meines Lebens, und sogleich war ich verblüfft, wie ich auf solch eine Idee verfallen konnte. Du schnappst allmählich über, altes Mädchen, sagte ich mir. Ja, das ist es, du wirst verrückt. Aber was machte das schon, das Leben war wunderbar—es war so ein Vergnügen, zu leben, zu atmen, sich zu bewegen, auch ein bißchen verrückt zu sein... und anzukommen!
Wir passierten eine große Baumwollspinnerei, dann eine Eisenbahnkreuzung. Mein Blick fiel auf die Turmuhr. Es war halb sechs. Wir fuhren weiter und weiter. Wie langsam war doch das Pferd—und so mager. Die Rippen spießten unter der ausgedorrten, pergamentartigen Haut hervor. Auch der Kutscher war spindeldürr und bestimmt müde. Er sah so ausgehungert aus wie sein Pferd. Ich bekam auf einmal Schuldgefühle; meine Koffer waren so schwer, sie füllten fast das ganze gefährlich schwankende, zweirädrige Gefährt. Ich saß quer—es war recht unbequem—und umklammerte angestrengt den Griff des einen Koffers, der bei jedem Ruck hinunterzufallen drohte. Meine Müdigkeit und die Hitze waren nebensächliche Einzelheiten, sie fielen kaum ins Gewicht, denn ich kehrte heim...
Nachdem mein Kutscher unterwegs immer wieder bei Straßenhändlern und Ladeninhabern Erkundigungen eingeholt hatte, lieferte er mich endlich am Ziel ab. Es war ein flacher, weiträumig angelegter, braunroter Bungalow, mitten in einem mauerlosen Garten, mit Blumenbeeten an der Vorderfront und Mengen von Bäumen im Hintergrund und weiteren einzelnen Bäumen darum herum. Die Straße war relativ breit; ein winziges Postamt, von Palmen umgeben, befand sich direkt gegenüber, ebenfalls in einem Garten, und gleich daneben bemerkte ich eine Bäckerei. Nach der anstrengenden Reise in Hitze und Staub erschien mir dies alles hier wie der Himmel - so erquickend und friedlich.
Aber meine Freude währte nicht lange. Mrs Ghose, die Besitzerin des Hauses, erklärte mir, sie hätte kein Zimmer für mich frei. Sie sagte, sie habe das auch Miss L. geschrieben, und schien überrascht, daß ich nichts davon wußte. "Aber ich bringe Sie zu Miss L.'s Freundin, Pushpa. Dort finden Sie sicher erst einmal eine Unterkunft."
Sie war eine dickliche Person mittleren Alters. Kurzentschlossen quetschte sie sich neben mich in den Tonga, setzte sich halb auf meine Koffer und gab dem Kutscher Anweisungen in Hindi. Dann raffte sie ihren umfangreichen Sari zusammen und redete mit ungeheurer Schnelligkeit auf mich ein—irgend etwas von Mietern und Briefen, aber ich hörte ihr kaum zu. Ich machte mir Sorgen. L. hatte mir zu verstehen gegeben, daß meine Unterkunft gesichert war, und da stand ich nun und wußte nicht, wo ich die Nacht verbringen sollte. Es gab auch kein Hotel in der Nähe, soweit mir das aus L.'s Erzählungen bekannt war. Nach einer Tages-und-Nachtreise brauchte ich dringend Ruhe.
Ich war noch mit meinen Gedanken beschäftigt, als sie dem Kutscher plötzlich zu halten befahl. "Hier wohnt Miss L's Guruji" (die Silbe ji ist ein Zeichen für besonderen Respekt). Sie wandte sich mir zu. "Würden Sie ihn gern sehen?"
Mir war in diesem Augenblick nicht danach zumute, auch nur irgend jemanden zu treffen. Mein Kleid war staubig, mein Haar klebte vor Schweiß—alles, was ich wollte, war eine kalte Dusche und eine Tasse Tee. Es war der denkbar unpasssendste Moment, jemanden zu treffen, noch dazu einen so wichtigen Menschen wie einen Guru! Aber meine Einwände halfen nichts; Mrs. Ghose entschwand schon durch ein breites hölzernes Tor in einen recht vertrocknet aussehenden Garten mit Sträuchern und einigen wenigen Bäumen. Im Hintergrund stand ein weißes, breitgestrecktes niedriges Haus mit je einer Tür an beiden Enden und einem großen hohen Eingang mit hölzernen Flügeltüren in der Mitte, der wahrscheinlich zu einem Innenhof führte.
Bevor ich richtig zur Besinnung kam, tauchten schon drei bärtige Inder aus der Tür gegenüber dem Gartentor auf und näherten sich mir, gefolgt von Mrs. Ghose. Alle drei waren älter und ganz in weiß gekleidet. Ich kletterte rasch aus dem Tonga, legte die Handflächen zum indischen Gruß zusammen und betrachtete jeden von ihnen der Reihe nach, nicht sicher, welcher von ihnen nun der Guru sei. Der älteste und größte der drei, der wie ein Weiser aus einem Krippenspiel aussah—langer grauer Bart, leuchtende Augen—, ging auf einmal den anderen beiden voraus und zeigte, als hätte er meine Gedanken erraten, auf den Mann, der ihm unmittelbar folgte. Das war also der Guru.
Im nächsten Moment stand er vor mir und blickte mich ruhig und mit einem Lächeln an. Er war groß, hatte ein freundliches Gesicht und seltsame Augen—dunkle stille Teiche, in denen so etwas wie flüssiges Licht, goldenen Funken gleich, zu schwimmen schien.
Ich bemerkte gerade noch, daß er als einziger eine weite Hose und eine sehr lange Kurta (ein kragenloses Hemd im indischen Schnitt) von makelloser Weiße trug; die anderen dagegen waren mit ziemlich schäbigen Kurtas und den üblichen indischen Longhi (Stoffbahn von ungefähr zwei Metern Länge, die um die Hüften geschlungen wird und bis zu den Knöcheln reicht) bekleidet.
Meinem Verstand blieb nicht viel Zeit, das alles festzustellen, denn auf einmal hatte ich das Gefühl, als schlage er Purzelbaum, und auch mein Herz setzte einen Moment aus. Ich rang nach Luft...in meinem Gehirn drehte sich alles wild durcheinander, und dann wurde mein Verstand völlig leer.
Und auf einmal geschah es—ja, es war, als nähme etwas in mir Habacht-Stellung ein und salutierte...Mein ganzes Wesen spürte, ich stand einem großen Mann gegenüber...
"Bei Mrs. Ghose gibt es keine Unterkunft für mich", sprudelte ich heraus und sah ihn unsicher an. Mir wurde klar, daß ich das nur gesagt hatte, um überhaupt etwas zu sagen, denn ich fühlte mich hilflos und völlig verloren. Tief in mir saß so etwas wie schreckliche Angst, Aufgeregtheit, und gleichzeitig ärgerte ich mich über mich, weil ich mich so verlegen und unbeholfen aufführte wie ein Kind.
"Miss L. hat mir geschrieben, daß Sie kämen", sagte er, und sein Lächeln wurde noch intensiver. Er hatte eine angenehme Baritonstimme. Sie paßte gut zu der allgemein friedlichen Ausstrahlung, die ihn zu umgeben schien.
Mrs. Ghose trat zu ihm und erzählte wieder ihre Geschichte—daß sie L. geschrieben hätte, bei ihr wäre nichts frei, von Briefen, die verlorengegangen seien und so weiter. Er nickte bedächtig.
"Sie werden die Möglichkeit haben, bei Pushpa zu wohnen, und", fügte er noch hinzu, "ich erwarte Sie morgen früh um sieben Uhr."
Einige höfliche Worte wurden noch gewechselt; er erkundigte sich nach meiner Reise, doch ich konnte mich auf einmal nicht mehr daran erinnern, konnte nicht denken, begriff fast nichts.
Kurz darauf kamen wir bei Pushpa an. Das Haus war groß, hatte zwei Stockwerke und einen sehr kleinen Garten. Sie selbst wirkte angenehm, war mollig und hatte ein recht hübsches Gesicht. Sie eilte uns zur Begrüßung entgegen, gefolgt von ihrem Schwiegervater, einer beeindruckenden, würdevollen Gestalt ganz in Weiß mit einem riesigen Schäferhund an seinen Fersen. Mrs. Ghose begann wieder mit ihren Erklärungen.
Bald war ich im Gästezimmer im Erdgeschoß untergebracht. Es gab einen Ventilator und einen Zugang zum Bad nebenan. Von den beiden Fenstern erhob sich eine hohe Ziegelmauer, über die sich eine üppig blühende Kletterpflanze rankte, und das Grün der Blätter von den Scheiben filterte das Licht und ließ den Raum grünlich und kühl erscheinen.
Die Wonne einer kalten Dusche, eine kurze Ruhepause und dann ein herrliches indisches Essen, gemeinsam mit der ganzen Familie im Eßzimmer um einen runden Tisch versammelt. Der Schäferhund war auch dabei, unter dem Tisch zu Babuji's (Großvaters) Füßen, und leckte sich und stank zum Himmel; aber auch das war nur eine Nebensächlichkeit und paßte irgendwie in den Rahmen der ganzen Erfahrung, so daß ich es annehmen konnte.
3. OKTOBER
Wie wunderbar hatte ich doch unter dem summenden Ventilator geschlafen. Ich konnte aber nicht um sieben bei ihm sein, wie er es mir aufgetragen hatte.
Frühstück war erst um neun. Die ganze Familie überschüttete mich mit Fragen—über England, über meine Reisen und über mich selber. Jeder wollte etwas Spezielles wissen, und so war es bereits nach zehn Uhr, als ich endlich aufbrechen konnte. Pushpa schickte mir ihren Diener mit, damit er mir den Weg zeigte.
Schon als ich durch das Gartentor ging, sah ich ihn in seinem Zimmer direkt der offenen Tür gegenüber in einem ausladenden Bambussessel sitzen, von dem aus er einen Teil des Gartens und den Eingang im Auge hatte. Er blickte mich, während ich auf ihn zueilte, ständig an und erwiderte meinen Gruß dann mit einem kurzen Nicken.
"Ich habe Sie um sieben Uhr erwartet", sagte er und spielte mit seiner Mala (Gebetskette, ähnlich unserem Rosenkranz, im Osten sehr gebräuchlich). "Es ist jetzt aber nicht gerade sieben Uhr."
Ich erklärte, daß das Frühstück erst so spät stattgefunden und ich nicht eher fortgekonnt hätte.
Er nickte. "Ja, das wäre unhöflich gewesen", bemerkte er und sagte mir, ich solle mich setzen.
Es war still im Raum. Er schien zu beten, Perle für Perle glitt die Mala durch seine Finger. Ich sah mich um. Es war ein Eckzimmer, nicht sehr groß und ziemlich schmal. Auf der rechten Seite führte eine weitere Tür, eingerahmt von zwei Fenstern, ebenfalls in den Garten. Zwei große Couches aus Holz, Tachats (Holzgestelle, die in Indien als Betten dienen) standen an der linken Wand, in die zwei Nischen eingebaut waren, die als Bücherregale dienten. Den Tachats gegenüber hatte man, mit dem Rücken zur Seitentür und zu den Fenstern, eine Reihe Stühle und einen kleinen Diwan für Besucher aufgestellt. Dazwischen blieb gerade noch ein schmaler Durchgang zu einer dritten Tür am entgegengesetzten Ende des Raumes. Sie war durch einen grünen Vorhang verdeckt und führte in das nächste Zimmer, von wo aus man in den Innenhof gelangte. Alles war sauber, ordentlich und schlicht; es hätte das Zimmer eines Studenten sein können. Die Bettücher, Kissen und Decken auf den Tachats sahen makellos aus. Er war ganz in Weiß gekleidet—weite Hosen, wie man sie hier im Norden Indiens trug, und eine Kurta von ungewöhnlicher Länge, eher wie ein Gewand, was mir schon gestern aufgefallen war.
Sein Name hing, kindlich naiv ausgeführt, in drei Rahmen an der Wand über den Tachats. Einmal war er mit ungelenk und ungenau aus Filz ausgeschnittenen Buchstaben geschrieben, der zweite mit Kreuzstichen gestickt und der dritte mit schwarzer Tusche in Druckbuchstaben gemalt—wie das Kinder oft für ihre Eltern oder Verwandten zum Geburtstag oder ähnlichen Anlässen anfertigen.
Während ich mir die Rahmen betrachtete, dachte ich über seinen Namen nach und war froh, daß er dort geschrieben stand und ich nicht ihn oder jemand anders danach fragen mußte.** Ich erinnerte mich noch sehr genau daran, wie ich L. plötzlich erschrocken sagte, ich wolle seinen Namen nicht wissen, als sie mir seine Adresse in meinem Zelt in Pahalgam in Kaschmir gab. Es war verwunderlich, und ich hatte auch keine Erklärung dafür, wieso ich damals schlagartig fühlte, er solle für mich ohne Namen und sogar ohne Gesicht bleiben.
L. meinte, daß dieser Umstand, seinen Namen nicht erfahren zu wollen, eine tiefe Bedeutung habe, aber sie weigerte sich, näher darauf einzugehen.
"Du wirst es eines Tages wissen", entgegnete sie recht geheimnisvoll.
Und hier war er nun, direkt vor meinen Augen, dreimal geschrieben und nicht zu übersehen an der Wand...
"Warum sind Sie zu mir gekommen?"*** fragte er ruhig in die Stille hinein.
Ich sah ihn an. Die Perlen hatten aufgehört, durch die Finger seiner rechten Hand zu gleiten, und ruhten jetzt auf der Armlehne des Sessels. Auf einmal verspürte ich, als hätte ich nur auf diese Frage gewartet, ein unwiderstehliches Bedürfnis zu sprechen, einen Drang, ihm alles zu erzählen, wirklich alles, über mich, meine Sehnsucht, meine Wünsche, mein Leben...
Es war wie ein Zwang. Ich fing zu sprechen an und redete sehr lange. Ich sagte ihm, ich wolle zu Gott und wäre auf der Suche nach der Wahrheit. Ich wüßte nach dem was ich von L. gehört hätte, daß er mir helfen könne, und ich erzählte ihm, was ich durch L.'s Schilderungen von ihm und seiner Arbeit verstanden hätte. Ich redete und redete. Er nickte immer wieder bedächtig, als wäre der Schwall meiner Worte eine Bestätigung seiner Gedanken, und sah mich die ganze Zeit mitt seinennn seltsamen Augen an, nein, er sah eher durch mich hindurch, als wolle er die verborgensten, innersten Winkel meines Geistes erforschen.
"Ich suche Gott", hörte ich mich sagen, "aber nicht die anthropomorphe Gottheit christlicher Vorstellung, den Vatergott, der irgendwo sitzt, womöglich noch auf einer Wolke und von Engeln mit Harfe umgeben. Ich suche die Wurzellose Wurzel, den Grundlosen Grund der Upanischaden."
"Nichts weniger als das?" Er hob eine Augenbraue. Ich entdeckte eine leichte Ironie in seiner Stimme. Dann schwieg er wieder und ließ seine Mala durch die Finger gleiten.
Auch ich blieb jetzt stumm. Er denkt bestimmt, ich bin voller Stolz, schoß es mir durch den Kopf. Unklare Gefühle von Verärgerung stiegen aus meinem tiefsten Inneren auf und verschwanden wieder. Er wirkte so fremd, so unbegreifbar.
Er sah aus dem Fenster, und sein Gesicht zeigte keinen Ausdruck. Ich merkte, daß seine Augen gar nicht sehr dunkel, sondern eher haselnußbraun waren, mit kleinen goldenen Einsprengseln darin, die Funken glichen, wie ich schon gestern festgestellt hatte.
Ich begann wieder und erzählte ihm, daß ich Theosophin sei, Vegetarierin und...
"Theosophin?" unterbrach er mich fragend. Ich erklärte. "Ah, ja, jetzt entsinne ich mich, vor langer Zeit bin ich einigen Theosophen begegnet." Wieder herrschte Schweigen. Er schloß die Augen. Seine Lippen bewegten sich in stummem Gebet. Doch ich fuhr gleich darauf fort, ihm zu erklären, daß wir Theosophen glaubten, daß ein Guru nicht erforderlich sei; wir müssen aus eigener Kraft versuchen, unser Höheres Selbst zu erreichen.
"Nicht in hundert Jahren!" Er lachte schallend. "Das kann nicht ohne Lehrer geschehen."
Ich sagte ihm, daß ich nicht wüßte, was Sufismus sei.
"Sufismus ist eine Lebensweise. Er ist weder eine Religion noch eine Philosophie. Es gibt hinduistische Sufis, moslemische Sufis, christliche Sufis—mein Verehrter Lehrer Guru Maharaj war zum Beispiel Moslem." Er sagte das sehr sanft und mit einem liebevollen Ausdruck, die Augen träumerisch und verschleiert.
Und dann bemerkte ich etwas, das mir zuvor durch meine Aufregung und meinen Eifer nicht aufgefallen war: der Raum war von großem Frieden erfüllt.
Der Guru selbst war voller Frieden. Er verstrahlte Frieden, der uns ganz einhüllte und von Ewigkeit zu sein schien—so, als hätte es diesen besonderen Frieden schon immer gegeben und als würde er für alle Zeit fortdauern...
Ich betrachtete sein Gesicht. Er sah auf männliche Weise gut aus. In seinen Zügen war nichts Feminines, nichts zu Weiches. Eine ziemlich kräftige Nase, eine sehr hohe Stirn. Der graue Bart verlieh ihm ein würdiges, deutlich orientalisches Aussehen. Sein Haar war auf westliche Art kurz geschnitten.
"Wie soll ich Sie anreden? Wie ist es Brauch?" fragte ich.
"Sie können mich nennen, wie Sie wollen. Mir ist das egal. Die Leute hier sagen 'Bhai Sahib' zu mir, das ist Hindi und bedeutet soviel wie 'Älterer Bruder'."
Ja, "Bhai Sahib", das finde ich auch für mich passend, dachte ich. Denn er ist für uns alle wirklich ein älterer Bruder.
"Als ich hier ankam, hatte ich das Gefühl, als wäre ich heimgekehrt. Und jetzt werde ich den Eindruck nicht los, daß ich Sie schon von früher her kenne. Bhai Sahib, wo sind wir uns das letzte Mal begegnet?"
"Was fragen Sie?" Er lächelte. "Eines Tages werden Sie es wissen. Wozu also die Frage? Aber wir sind uns schon begegnet, nicht nur einmal, sondern viele Male, und wir werden einander noch viele Male begegnen. Soviel kann ich Ihnen sagen."
Um 11.30 schickte er mich fort.
"Nur für die ersten Tage (er legte eine besondere Betonung auf das Wörtchen 'nur') werden Sie hier nicht längere Zeit hintereinander bleiben. Seien Sie nach sechs Uhr wieder zurück."
Ich ging, und ich nahm das beeindruckende Bild seines Gesichts voller unendlicher Güte und Erhabenheit mit, und diese Erinnerung ließ mich eine ganze Weile nicht mehr los. Wer ist er? Ich fühlte mich recht verwirrt.
* Nach einer östlichen Tradition ist der Schüler geboren, wenn der Blick des Lehrers zum erstenmal auf ihn fällt.
** Nach der alten Tradition spricht der Schüler niemals den Namen des Lehrers aus; auch ich durfte ihn nicht aussprechen, und es widerstrebt mir auch, ihn zu schreiben.
*** Die traditionelle Frage jedes östlichen Lehrers an einen Aspiranten oder angehenden Schüler. Nach dem spirituellen Gesetz muß der Mensch klar seine Absichten und Motive beschreiben. Der Lehrer wird nichts gegen den freien Willen des Einzelnen unternehmen.