Übersetzung des englischen Artikels Anima Mundi: Awakening the Soul of the World
Gott erlöst die Menschheit,
aber die Natur muss von menschlichen Alchemisten erlöst werden,
die in der Lage sind, den Prozess der Transformation einzuleiten,
der allein die Fähigkeit besitzt, das Licht,
das in der physischen Schöpfung gefangen ist, freizusetzen.
— STEPHAN HOELLER(1)
Die Welt ist ein lebendiges spirituelles Wesen. Dies vertraten die alten Philosophen und die Alchemisten, die von der spirituellen Essenz der Welt als der Anima Mundi, der „Weltseele“, sprachen. Sie betrachteten die Weltseele als reinen ätherischen Geist, der die ganze Natur durchdringt, als die göttliche Essenz, die alles Leben im Universum umfasst und energetisiert.
Im Laufe der Geschichte hat sich unser Verständnis von der Welt als einem lebendigen Wesen mit einer spirituellen Essenz dramatisch verändert. Plato war der Auffassung, dass „der Kosmos eine einzige Lebende Kreatur ist, die alle lebenden Kreaturen in sich birgt.“(2) Während diese Tradition durch die Gnostiker und später durch die Alchemisten weiter gegeben wurde, stellten sich die Kirchenväter die Welt als weder göttlich noch heilig vor. Eine transzendente Göttlichkeit war die Quelle aller Schöpfung, und die Menschheit lebte, vom Himmel ausgeschlossen, im Exil, in einem Zustand der Sünde. Diese Doktrin schuf eine Trennung zwischen Materie und Geist, die bewirkte, dass die Welt als getrennt von ihrem Schöpfer gesehen wurde.
Die Anschauung, dass die Welt heilig ist, tauchte in den folgenden Jahrhunderten immer mal wieder auf. Mit dem Aufleben der Gotik im zwölften Jahrhundert—und später in der Renaissance—wurde die erschaffene Welt für einen kurzen Zeitraum durch den Blickwinkel der Idee der Weltseele betrachtet. Die Baumeister der Gotik haben in ihren Kathedralen ihre Vision von einer heiligen Ordnung innerhalb der Schöpfung widergespiegelt, die zu diesem weiblichen göttlichen Prinzip gehört. Die Weltseele belebte und formte die Natur göttlichen Proportionen entsprechend, die die Baumeister, Maurer, Bildhauer und Glasmacher dann in ihren Schöpfungen darstellten.(3)
Während der Renaissance wurde die Natur wieder kurz als ein lebendiges spirituelles Wesen betrachtet:
Während die mittelalterliche Theologie Gott in eine völlig transzendente Sphäre gerückt hatte, war für die Platoniker der Renaissance die Natur von Leben, von Göttlichkeit und numinosem Geheimnis durchdrungen, ein vitaler Ausdruck der Weltseele und der lebendigen Kräfte der Schöpfung. Mit den Worten von Richard Tarnas: „Der Garten der Welt war wieder verzaubert mit magischen Mächten und transzendenten Bedeutungen, die jedem Teil der Natur innewohnten“(4)
In der Renaissance wurde die Weltseele als spirituelle Essenz innerhalb der Schöpfung betrachtet, die das Entfalten des Lebens und des Kosmos leitet. In den Worten des Renaissance-Philosophen Giordano Bruno „erleuchtet die Weltseele das Universum und dirigiert die Natur, ihre Spezies in der richtigen Weise hervorzubringen.“(5) Die Weltseele war auch das kreative Prinzip, das die Renaissancekünstler in ihren Werken zum Ausdruck bringen wollten. Ihre Kunst basierte auf denselben heiligen Proportionen, die sie in der Natur sahen, und sie verstanden die Imagination als eine magische Kraft, die die „Energien der Anima Mundi herbeilocken und kanalisieren kann.“
Die Renaissance hat uns großartige Wunder der Kunst und der Ideen hinterlassen. Es war jedoch nur eine kurze Blütezeit. Die orthodoxen Strömungen der Kirche etablierten wieder die Trennung zwischen Materie und Geist, und die aufstrebenden Wissenschaften führten dazu, dass die natürliche Welt als eine Maschine betrachtet wurde, deren seelenloses Funktionieren von den Menschen rational verstanden und beherrscht werden konnte. Die magische Welt des schöpferischen, vom göttlichen Geist durchdrungenen Geheimnisses wurde ein Traum, der nur noch bei den Dichtern und in den Laboratorien und symbolischen Schriften der Alchemisten fortbestand.
Die Alchemisten fuhren fort, die Anima Mundi zu erforschen. Während die Kirche das Licht im Himmel suchte, suchten die Alchemisten das in der Materie verborgene Licht. Sie gingen davon aus, dass es eine heilige Essenz im Gewebe der Schöpfung gab, welche sie durch ihre Experimente und Imagination freisetzen wollten. Für die Alchemisten ist die Anima Mundi der göttliche Funke in der Materie, das ‚philosophische Quecksilber’, welches das ‚universale funkelnde Feuer im Licht der Natur ist, das den himmlischen Geist in sich trägt’.
Die Alchemie befasst sich damit, Blei in Gold umzuwandeln, indem sie das Licht befreit, das in der Dunkelheit verborgen ist—„die feurigen Funken der Weltseele, d. h. das Licht der Natur… zerstreut oder versprüht durch die Strukturen der großen Welt hindurch in alle Früchte der Elemente überall“.(6)Die Alchemisten nahmen auch an, dass es eine Verbindung zwischen der Anima Mundi und der Seele oder dem innersten Geheimnis des Menschen gibt. Die Quelle der Weisheit und das Wissen über die alles durchdringende Essenz der Anima Mundi war das „innerste und geheimste Numinosum des Menschen.“(7)
Im letzten Jahrhundert hat C. G. Jung die Weisheit des alchemistischen Opus wieder entdeckt, und er zeigte auf, wie alchemistische Symbole den Prozess der inneren Transformation veranschaulichen, der dieses verborgene Licht befreien kann. Jung unterschied zwischen zwei Arten des spirituellen Lichts: Lumen Dei, das Licht, das aus dem spirituellen Bereich eines transzendenten Gottes kommt, und Lumen Naturae, das Licht, das in der Materie und in den Kräften der Natur verborgen ist. Das göttliche Licht kann durch Offenbarung und durch spirituelle Übungen, die uns Zugang zu unserem transzendenten Selbst geben, erfahren werden. Das Licht der Natur muss, damit es kreativ in der Welt wirken kann, durch die innere Alchemie freigesetzt werden.
Die Tradition der Alchemie, zurückübersetzt in die Sprache der inneren Transformation, ist ein Schlüssel, der uns hilft, unser natürliches Licht zu befreien und die Welt zu transformieren. Das in der Dunkelheit verborgene alchemistische Licht ist unser eigenes Licht, das auch der göttliche Funke in der Materie ist. Unser natürliches Licht ist Teil des Lichts der Weltseele. Das alchemistische Aufschließen der Materie kann mit der Befreiung oder Erweckung der Weltseele, der Anima Mundi, in Zusammenhang gesehen werden. Als ein Mikrokosmos des Ganzen kann der Einzelne direkt an dem alchemistischen Prozess teilhaben, der dieses Licht befreit—ein Licht, das benötigt wird, um die Wunder der Schöpfung zu verstehen und uns zu zeigen, wie man mit ihrer magischen Natur arbeiten kann. Mit dem Lumen Naturae können wir wieder erlernen, die Geheimnisse der Natur zu entschlüsseln, so dass wir für unser Überleben die natürliche Welt nicht länger attackieren und zerstören müssen.
Die Alchemie ist unsere westliche Tradition der inneren Transformation. Sufis haben schon immer vom inneren alchemistischen Prozess gewusst.(8 )Einer der frühen Sufimeister, Dhu-l-Nun, wurde als Alchemist beschrieben, und ein großer Sufi des zwölften Jahrhunderts, al-Ghazzali, hat eines seiner wichtigsten Bücher Die Alchemie des Glücks genannt. Sufis verstanden sich schon immer auf die Alchemie des Herzens, durch die die Energie der Liebe das Individuum transformiert, damit das in der Dunkelheit der Nafs, oder des niederen Selbst versteckte Licht enthüllt wird. Sie entwickelten eine detaillierte Wissenschaft, so mit den Kammern des Herzens zu arbeiten, dass eine innere Transformation erreicht wird, die dem Sucher Zugang zum Licht seiner wahren Natur verschafft. Diese Arbeit ist nicht nur für den Einzelnen gedacht, sondern kann eine direkte Beziehung zu der ganzen Schöpfung und dem Herzen der Welt haben. Haben wir erst einmal die mysteriöse Verbindung zwischen unserer eigenen innersten Essenz und der Seele der Welt erkannt, können wir die Werkzeuge der inneren Transformation benutzen, um direkt mit der Weltseele zu arbeiten und der Anima Mundi helfen, ihr göttliches Licht zu enthüllen und zu erwachen.
WIE OBEN SO UNTEN
C.G. Jungs Schriften über die Alchemie haben bewirkt, dass wir angefangen haben, die Natur der inneren alchemistischen Arbeit zu verstehen. Die Arbeit an dem alchemistischen Blei—an der Prima Materia, an dem, was „glorreich und abscheulich, wertvoll und unwesentlich ist und überall gefunden wird“(9)—ist die Arbeit am Schatten, den abgelehnten und nicht angenommenen Teilen unserer Psyche. Der Stein der Weisen, das Gold, das aus dem Blei gewonnen wird, ist unsere eigene wahre Natur, das Selbst. Anstelle einer transzendenten, nicht verkörperten Göttlichkeit enthüllt die Alchemie ein göttliches Licht, das in den tiefsten Tiefen unserer Psyche existiert. Dieses in der Dunkelheit verborgene Licht, das Lumen Naturae, ist auch unser instinktives Selbst, unsere natürliche Art zu sein, das bis zu seiner Freilegung von den Mustern der Konditionierung und den Schichten des falschen Selbst überdeckt ist.
Was ist der Unterschied zwischen dem Licht, das wir in den Tiefen der Psyche entdecken, und dem Licht unseres transzendenten Selbst, dem wir in der Meditation oder anderen Erfahrungen für Augenblicke begegnen? Es ist das selbe Licht, das auf verschiedene Weise erfahren wird. Die Sufis wissen, dass der Geliebte, die Quelle allen Lichts, sowohl eine innewohnende als auch eine transzendente Qualität hat. ER, den wir lieben, ist beides, „uns näher als unsere Halsschlagader“ und „sogar jenseits unserer Idee vom Jenseits“. Das Selbst, “größer als groß und kleiner als klein“, hat dieselbe duale Qualität.
Der Yogi, tief in Meditation, und der Alchemist in seinem Laboratorium suchen das selbe Licht, die selbe göttliche Natur. Alles, was wir erfahren, hat eine duale Natur, einen männlichen und einen weiblichen Aspekt, und das ist auch beim Licht des Selbst so. Es kann in seiner männlichen Form als reines transzendentes Licht erfahren werden, als reines Bewusstsein ohne die Beschränkungen der Psyche oder der physischen Welt. In der Meditation können wir unsere ewige und unendliche Natur zuerst kurz wahrnehmen und später in ihr ruhen und dabei eine Realität erfahren, die nicht von unserem Körper oder der manifestierten Welt bestimmt oder eingeschränkt ist. Dies ist eine Realität von Licht über Licht, unsere farblose und formlose Essenz.
Wir können unserer göttlichen Natur auch in ihrer weiblichen, verkörperten Form begegnen: als das Licht des Seins, als unsere natürliche Weisheit, das Gold unserer wahren Natur. In diesem Licht erfahren und erkennen wir das Göttliche innerhalb der Schöpfung, die Art, wie sich unser Geliebter in einer Vielfalt an Formen offenbart, wobei jede Form ein anderer Ausdruck Seines unendlichen Seins ist. Wir erleben, wie jede Farbe, jeder Geruch, jeder Geschmack, sogar jeder Gedanke und jedes Gefühl ein einzigartiger Ausdruck des Göttlichen ist. So erfahren wir Ihn in Seiner Schöpfung anders als im Transzendenten, wo alles noch nicht entfaltet ist. In dieser Offenbarung erkennen wir, dass jedes Ding einzigartig ist und dass alle Dinge eins sind, und wir entdecken die Beziehung der Teile zu dem Ganzen—das miteinander verknüpfte Wunder der Schöpfung. Wir sehen das reiche Gewebe des Lebens und wissen, dass es Ein Wesen ist, das Sich auf so viele Arten offenbart.
Wenn wir nicht im Paradigma der Dualität, unserer ererbten Trennung von männlich und weiblich und Geist und Materie verharren wollen, dann müssen wir diese beiden Aspekte gleichermaßen achten. Wir können es uns nicht länger leisten, den Fußstapfen der patriarchalischen Kirchenväter zu folgen, und nur ein transzendentes Licht suchen, nur zum Himmel schauen. Wir müssen auch das Licht erkennen, das in der Materie verborgen ist, und die Magie der Schöpfung erfassen, die es offenbart. Es ist notwendig, dass wir die Geheimnisse der Schöpfung kennen, wie sie in dem heiligsten Text der Alchemisten,der Smaragdtafel, die Hermes Trismegistos zugeschrieben wird, gefeiert werden:
Was unten ist, ist gleich dem, was oben,
und was oben ist, gleich dem, was unten,
auf dass sich die Wunder des einen Dinges vollziehen.(10)
Das in der Materie verborgene Licht ist das eine Licht, das in dem Mysterium der Schöpfung erfahren wird, der versteckte Schatz, der sich durch den Tanz der Mannigfaltigkeit enthüllt. Die Schöpfung der manifesten Welt ist eine Offenbarung der verborgenen Natur des Göttlichen, so wie es in dem Hadith ausgedrückt wird: „Ich war ein verborgener Schatz und sehnte mich danach, erkannt zu werden, darum erschuf Ich die Welt.“ Aber wir können dieses Wunder nur erfahren und die wahre Natur dieser Offenbarung nur erkennen durch das in der Schöpfung verborgene Licht. Genauso wie Er Sein Geheimnis in uns versteckt hat—„Der Mensch ist mein Geheimnis und Ich bin sein Geheimnis“—so hat Er Sich in Seiner Schöpfung versteckt. Manchmal, in Momenten inmitten der Schönheit oder der Pracht der Natur, in der Weite der Sterne oder der Vollkommenheit des Morgentaus auf einer Blume, erblicken wir dieses Wunder. Das Licht, das in der Materie versteckt liegt, bricht durch, und wir stehen in Ehrfurcht vor unserem Schöpfer, so wie es in den Worten des Dichters Gerard Manley Hopkins wiedergegeben ist:
Geladen ist die Welt mit Gottes Herrlichkeit.
Aufflammen wird sie, wie Glast von gerütteltem Flitter.(11)
Durch das Licht können wir zur göttlichen Natur des Lebens erwachen und die wahre Schönheit Seiner Schöpfung erfahren. Es gibt nur ein Licht—„wie oben so unten“—und dennoch enthüllt Er sich in Seiner Schöpfung auf eine Weise, wie es durch Sein transzendentes Licht, das Lumen Dei, nicht geschieht. Was für den Schöpfer zutrifft, trifft auch auf uns zu, die wir „in Seinem Bilde erschaffen wurden“. Das Licht, das durch die Arbeit am Schatten und dem inneren alchemistischen Opus in den Tiefen der Psyche enthüllt wird, offenbart einen Teil unserer göttlichen Natur, der einem rein transzendenten Bewusstsein verborgen bliebe. Wir lernen uns und unseren Geliebten auf eine neue Weise kennen. Für jeden von uns ist diese Entdeckung einzigartig. Es gehört zum Wunder der Schöpfung, dass sie jedem von uns eine andere Erfahrung bietet; sogar der selbe Apfel, von zwei verschiedenen Personen probiert, wird jeweils unterschiedlich erfahren. Durch Sein Licht können wir das Leben sehen, wie es wirklich ist, in der Einzigartigkeit unserer eigenen Erfahrung, und nicht lediglich durch die Schleier unserer Projektionen, und so die göttliche Einzigartigkeit eines jeden Moments schmecken. Gleichzeitig erfahren wir diese Einzigartigkeit als Teil einer größeren Einheit. Wir sehen die Fäden, die alles Leben miteinander verbinden, wir sehen, wie jeder Teil das Ganze widerspiegelt.
Wer in jedem Teil nicht das Ganze sieht,
Spielt Blinde Kuh;
Ein weiser Mann schmeckt den Tigris in jedem Schluck.(12)
VERBINDUNGEN DES LICHTS
In unserem tieferen Wissen erkennen wir diese tiefe Verbundenheit allen Lebens. Und dennoch haben die Kirche, die wachsende Bedeutung der westlichen Wissenschaften und der zunehmende Materialismus in unserer Kultur die Anima Mundi effektiv aus unserer kollektiven Vorstellungswelt verbannt, bis, mit C.G.Jungs Worten, „Der Mensch selbst aufgehört hat, der Mikrokosmos zu sein, und seine Anima nicht mehr wesensgleich mit der Scintilla oder dem Funken der Anima Mundi, der Weltseele ist.“(13) Wie können wir diese Beziehung wiedergewinnen, diese Verbindung in unserer Imagination und unserer inneren Arbeit wieder erwecken? Wie können wir unser Licht der Weltseele zurückgeben?
Haben wir erst einmal diese einfache Tatsache, dass wir Teil des Ganzen sind, anerkannt, wird eine Verbindung zwischen unserem Licht und der Welt geschaffen. Wir bilden diese Verbindung über unser Bewusstsein und über unsere Vorstellungskraft; dann beginnt unser Licht durch diese Verbindung zu fließen. Auf diese Weise setzen wir die Arbeit des Ganzen in Gang. Diese Verbindungen schaffen Bahnen aus Licht, die sich ihren Weg durch die Dunkelheit der kollektiven Psyche suchen. So wie in unserer persönlichen Psyche gibt es Blockierungen und Orte des Widerstandes gegen diesen Fluss des Lichts. Und es gibt auch Orte der Kraft, Kreativität und unerwartete Qualitäten.
Die Weltseele ist keine feste, definierbare Substanz, sondern ein lebendiger Stoff, erschaffen aus den Hoffnungen, Träumen und tiefsten Bildern der Menschheit und der gesamten Schöpfung. Dies ist das Zuhause der kollektiven Erinnerung der Schöpfung und der Mythen der Menschheit. Hier wohnen die Archetypen und Mächte, die unser Leben bestimmen. Hier gibt es versteckte Orte von magischer Bedeutung, Orte, an denen Träume ins Sein kommen können. Wir haben so lange in der starren Kahlheit einer rationalen Landschaft gelebt, dass wir die machtvollen Möglichkeiten vergessen haben, die unter der Oberfläche liegen. Wenn unser Licht durch die von unserer bewussten Verbindung zur Anima Mundi geschaffenen Bahnen fließt, wird es seinen Weg zu den Orten der Kraft, die in der Welt liegen, finden, Orte, an denen tiefere Schichten von Bedeutung darauf warten, lebendig zu werden.
Wir sehen zurzeit die materielle Welt als etwas, das von uns getrennt ist, ein festes, beständiges Objekt ohne Leben oder Magie. Wie die Wissenschaftler des siebzehnten Jahrhunderts, die entschieden, dass Tiere keine Gefühle haben und daher ohne zu leiden seziert werden könnten, fühlen wir uns frei, der Welt unseren Willen aufzudrücken und sie zu unserem eigenen Nutzen auszuplündern, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, wie viel Leid und Schaden wir ihr zufügen. In unserem materialistischen Treiben gefangen erkennen wir nicht, dass dieses Bild von der Welt eine Illusion ist, ein substanzloser Traum, der sich leicht verändern oder auflösen kann, sobald neue Kräfte ins Spiel kommen. Indem unser Licht seine Verbindungen innerhalb der Weltseele schafft, wird es einige dieser machtvollen Möglichkeiten aktivieren, Energien, die darauf warten, die Welt von unserer destruktiven Illusion zu befreien. Wir wissen, wie das auf unserer eigenen alchemistischen Reise funktioniert, wie das, was wir unter der Oberfläche finden, unsere Werte auf unerwartete Weise verändert und sich dann Verbindungen entwickeln und wie Synchronizitäten auftreten, die vorher unglaublich gewesen wären. Wenn wir diese Verbindungen herstellen, werden wir sehen, dass sowohl die Welt wie auch wir selber magischer sind, als wir denken.
Diese Arbeit, unser Licht mit der Welt zu verbinden, muss nicht durch eine Massenbewegung oder von Millionen von Leuten gemacht werden. Seit Jahrhunderten haben ein paar Alchemisten diese Geheimnisse der inneren Transformation gegen die machtvollen Strömungen der Kirche und der Gesellschaft lebendig gehalten. Die wirkliche Arbeit geschieht immer durch eine kleine Anzahl von Individuen. Worauf es ankommt, ist die Intensität der Mitarbeit: ob wir es wagen, uns wirklich der Arbeit der Seele zu verpflichten. Anders als die Alchemisten, die in ihren Laboratorien lebten, brauchen wir unser gewöhnliches, äußeres Leben nicht aufzugeben—der normale Alltag kann auch die notwendige Balance bieten und ein Schutz gegen die seltsamen Verblendungen sein, die so leicht von der inneren Welt erzeugt werden. Doch wir müssen erkennen, dass eine bestimmte Arbeit auf uns wartet und dass wir nicht länger an den Außenlinien stehen und zuschauen können, wie unsere kollektiven Träume außer Kontrolle geraten.
Unsere Kultur mag uns in unserem individuellen Selbst eingekapselt und uns von unserem magischen Selbst getrennt haben—aber auch das ist nur eine oberflächliche Sinnestäuschung. Wir sind alle miteinander verbunden und Teil der lebendigen Substanz der Schöpfung. In jeder Zelle unseres Seins, in jedem Funken unseres Bewusstseins haben wir ein Wissen von der Einheit. Unsere eigene innere Reise lässt sich nicht von der Reise des Ganzen ablösen. Eine innere Reise, die vom Ganzen abgetrennt ist, ist keine wirkliche Reise; sie ist nur eine weitere Illusion, erzeugt von einem Ego, das sich schützen möchte.
Die Substanz unserer Seele ist Teil des Stoffes des Lebens, des Gewebes der Schöpfung, in das die Einhörner und Monster unserer Träume genauso eingewirkt sind wie die Wolkenkratzer unserer Städte. Die innere und die äußere Welt sind nicht getrennt—trotz aller Bemühungen unserer rationalen Kultur, die uns das glauben machen will. Die aktuellen Schrecken des Terrorismus haben wieder einmal die Dämonen in unser Wohnzimmer gebracht, und wir spüren, dass es nirgendwo wirklich Sicherheit vor diesen Schatten gibt. Aber wir müssen nicht einfach Opfer dieser archetypischen Alpträume sein. Indem wir die wirkliche Magie, die von innen kommt, wachrufen, können wir daran arbeiten, das Licht und die Dunkelheit auszubalancieren und schöpferisch mitwirken, die Träume zu verändern, die unser kollektives Leben bestimmen.
Das Licht der Weltseele wartet darauf, dass es uns mit den inneren Kräften verbinden kann, die der Materie und dem Leben selbst angehören. Die wirkliche Welt ist ein verzauberter Ort voller magischer Kräfte, die benutzt werden wollen. Und die Anima Mundi ist, wie es die Alchemisten schon erkannt hatten, eine kreative Kraft: „Sie ist der Künstler, der Handwerker, die ‚Innere Vision’, die die Urmasse gestaltet und differenziert, ihr Form verleiht.“(14)
ZUM SINN DER SCHÖPFUNG ERWACHEN
Die Weltseele ist nicht einfach ein psychologisches oder philosophisches Konzept. Sie ist eine lebendige spirituelle Substanz in uns und um uns herum. Genauso wie die individuelle Seele den ganzen Menschen durchdringt—unseren Körper, unsere Gedanken und Gefühle—so ist es die Eigenschaft der Weltseele, in allem gegenwärtig zu sein. Sie durchdringt die gesamte Schöpfung und ist das vereinigende Prinzip in der Welt. Der Alchemist und Arzt Thomas Browne hielt sie für „den Universellen Geist der Natur, die Anima Mundi oder Weltseele, verantwortlich für alle Phänomene und für das, was alles Leben verbindet.“(15)Marsilio Ficino sah die Weltseele überall wirken:
Die Seele ist alle Dinge zusammen… Und da sie das Zentrum aller Dinge ist, hat sie die Kräfte von allem. Daher geht sie in alle Dinge ein. Und da sie die wahre Verbindung aller Dinge ist, geht sie in das eine ein, ohne die anderen zu verlassen …deshalb kann sie rechtmäßig das Zentrum der Natur genannt werden, der Angelpunkt aller Dinge, das Gesicht von allem, das Band und das Gelenk des Universums.(16)
Die Seele der Welt durchdringt die gesamte Schöpfung wie Salz das Wasser. Die physische Welt ist die dichtere Ebene, und in ihr und sie erhaltend ist die Wirklichkeit der Seele, die wiederum die Höhere Intelligenz enthält, die das schöpferische und ordnende Prinzip des Lebens ist.
Diese göttliche Intelligenz ist in allem. Sie ist der Funke in der Materie, das Licht im Menschen. Wenn wir uns von unserer eigenen Seele abtrennen, verwehren wir uns den bewussten Zugang zu diesem Licht, zu dessen Führung und Intelligenz. Dann wird unser Leben sinnlos und zwecklos, „ein wandelnder Schatten… nichts bedeutend.“ Verbinden wir uns wieder mit unserer Seele, wird die Magie und Bedeutung des Lebens von neuem lebendig, sowohl in uns als auch um uns herum.
Unser wirkliches Geschenk an das Leben ist das Bewusstsein von seiner Bedeutung. Wenn wir uns der Absicht des Lebens gewahr sind, scheint das Licht unserer Seele in unser Leben, und das Geheimnis dieses in der Welt verborgenen Lichts wird lebendig. Und das Licht, das in uns ist, ist in allem; es ist „im Zentrum aller Dinge“. Wenn unser Licht in uns lebendig wird, wird es in der gesamten Schöpfung lebendig. Es offenbart der Schöpfung ihren wirklichen Zweck. Zurzeit nimmt unsere kollektive Kultur das Leben hauptsächlich aus einer materiellen Perspektive wahr—wir beten den Gott des Konsums an, machen Kaufen zu unserem Lebensziel. Wir sind in der Materie gefangen. Wir haben die symbolische und heilige Bedeutung der äußeren Welt vergessen. Entfremdet von unserer Seele haben wir die Schöpfung von ihrer tieferen Bedeutung entfremdet. Und weil wir der Welt ihre Göttlichkeit genommen haben, stirbt sie langsam.
Die wirkliche alchemistische Arbeit besteht darin, die Schöpfung aus ihrer Gefangenschaft zu befreien—das Leben zu seinem Sinn zu erwecken. Wir müssen das Licht erlösen, das in uns und in der Welt ist. Ein transzendentes Bild des Göttlichen gibt uns nur Zugang zu einem transzendenten Licht. Wir brauchen das Licht, das in der Materie verborgen ist, das Gold, das im Blei ist. Wenn dieses Licht im Leben lebendig wird, kann es die Muster der Schöpfung ändern und die Formen der Zukunft schaffen, die das Leben wieder in Harmonie bringen können. Es manifestiert sich dann seine vereinigende Natur.
Die Alchemisten sahen das Wesen dieses Lichts folgendermaßen:
Es ist der Vater aller Wunderwerke der ganzen Welt…
Seine Kraft ist vollkommen, wenn es in Erde verwandelt worden ist.(17)
Wenn diese Kraft in der Welt arbeitet, ist sie das Licht und die Kraft des manifest gewordenen Göttlichen. Das Licht in unserer eigenen Psyche ist das Licht in der Anima Mundi. In der Tiefe von uns selbst entdecken wir diese essentielle Einheit. Das ist dasselbe Gewahrwerden wie die Erkenntnis des Yogi, dass das eigene wahre Wesen und unveränderliche Selbst (atman) das Universelle Selbst (Atman) ist. Was in uns ist, ist in allem. Wenn wir diese Wahrheit erst einmal erfassen, treten wir aus den Parametern unseres individuellen Selbst heraus und werden uns der Macht bewusst, die in uns ist. Diese Verschiebung im Bewusstsein ist ein sehr einfacher Schritt, der tief greifende Konsequenzen hat.
DIE WELT IMAGINIEREN
Momentan schläft die Welt, erleidet die Träume der Menschheit, die Alpträume von Entheiligung und Verschmutzung sind. In unserer Hybris haben wir vergessen, dass die Welt mehr ist als unsere kollektiven Projektionen, dass sie mysteriöser und eigenartiger ist, als unser rationaler Verstand uns Glauben machen will. Die Quantenphysik hat eine flüssige und nicht voraussagbare Welt entdeckt, in der Bewusstsein und Materie nicht getrennt sind—ob sich ein Lichtphoton als Teilchen oder als Welle verhält, hängt vom Bewusstsein des Beobachters ab. Aber wir verharren in den Vorstellungen der Newtonschen Physik, wo Materie tot, bestimmbar und fest ist, und Bewusstsein fein säuberlich von der physischen Welt geschieden wird. Materie und Geist bleiben auf die Weise getrennt, und wir setzen die patriarchalische Phantasie fort, dass wir unsere Welt kontrollieren können.
Wie wir bereits gesehen haben, ist die physische Welt nicht immer so von uns getrennt betrachtet worden. Viele Kulturen haben sich mehr mit der Beziehung zwischen den Welten befasst. In der Vorstellung des Mittelalters war die physische Welt nur ein Glied der Großen Kette des Seins. Die mittelalterlichen Kathedralen verkörperten eine symbolische und geometrische Beziehung zwischen den verschiedenen Gliedern, so zum Beispiel in dem Labyrinth, das unsere Reise durch diese Welt versinnbildlicht und gleichzeitig das Bild des Rosenfensters widerspiegelt, das von einer höheren Wirklichkeit des Lichts kündet. Im Sufismus von Ibn ´Arabî sah man die Welten als durch die symbolische Welt der Imagination verbunden, die als Brücke oder Mittler zwischen der Welt des Mysteriums (´alam al-ghayb) und der Welt des Sichtbaren (´alam al-shahadat)“ fungiert.
In ihren Retorten und Schmelztiegeln arbeiteten die Alchemisten nicht nur mit den chemischen Substanzen, sondern auch mit den inneren Energien des Lebens. In ihren Schriften voller Symbolik beschreiben sie beides: das Mischen von Tinkturen und die Hochzeit des Königs und der Königin, die Vereinigung von Sonne und Mond. Die Alchemisten nahmen ihre Arbeit ernst, in dem Wissen um die wirkliche Verantwortung, die darin lag.(18) Sie wussten, dass sie mit einer geheimen Substanz des Lebens arbeiteten, ‚Mercurius’ oder ‚Quecksilber’, ein Katalysator, der alles transformiert, was immer mit ihm in Berührung kommt. Die Art und Weise, wie sich ihre Chemikalien veränderten und umwandelten, war ein Abbild dafür, wie das Leben mit der rechten Mischung von Elementen verändert werden kann. Sie wussten, dass Materie und Geist nicht getrennt sind. Die moderne Wissenschaft enthüllt uns jetzt dasselbe. Trotzdem bleibt es für uns ein großes Mysterium, wie die innere und die äußere Welt miteinander in Beziehung stehen und wie unser Bewusstsein die physische Welt beeinflusst.
Wenn wir unser sicheres Konzept einer getrennten, statischen und eingegrenzten Welt aufgeben, öffnen wir uns einer dynamischeren Wirklichkeit, in der das Leben ein Energiefeld ist, mit dem unser Bewusstsein und unser Unterbewusstsein interagieren: ein pulsierendes Netz Indras, das stetig von der Seele gewoben wird, durch das unser Bewusstsein Form annimmt und unsere Träume ins Sein kommen.
DIE ANIMA MUNDI BEFREIEN
Wir brauchen die magischen Kräfte innerhalb der Natur, um unsere Welt zu heilen und zu transformieren. Doch diese Kräfte zu erwecken, würde bedeuten, dass unsere patriarchalischen Institutionen ihre Kontrolle verlieren, sobald wieder einmal die geheimnisvolle innere Welt ins Spiel kommt und Kräfte freisetzt, die früher von den Priesterinnen und Schamanen beherrscht und benutzt wurden, deren Existenz die patriarchalische Welt jedoch vergessen hat. Die Wissenschaft der Zukunft wird mit diesen Kräften arbeiten und erforschen, wie die verschiedenen Welten zusammenhängen und wie sich die Kräfte der inneren Welt in der äußeren nutzen lassen. Schamane und Wissenschaftler werden zusammenarbeiten; die Weisheit der Priesterin und das Wissen des Arztes erneuern dann ihre uralte Verbindung.
Zu allererst jedoch geht es darum, diese Kräfte zu erwecken, und zwar nicht nur individuell, sondern für die ganze Welt. Wir sind auf dem Weg in ein globales Zeitalter, und alle wirklichen Veränderungen müssen global gemacht werden. Wenn wir versuchen, uns für unseren eigenen, persönlichen Gebrauch Kräfte anzueignen, riskieren wir, in die Schwarze Magie abzugleiten, die das Benutzen innerer Kräfte für die Zwecke des Egos ist. Unser nächster Schritt in der Evolution ist die Erkenntnis der Ur-Wahrheit von der Einheit und die Wiedervereinigung unseres individuellen Lichts mit dem Ganzen.
C.G. Jungs bahnbrechende Arbeit hat uns Zugang zur Wissenschaft der Alchemie verschafft und diesen verborgenen Teil unserer westlichen esoterischen Tradition aufgedeckt. Psychologische Techniken wurden entwickelt, die uns unterstützen, eine innere Welt der Energie, der Kraft und des kreativen Potentials freizulegen. Wir brauchen nicht länger in einer oberflächlichen Welt eingeschlossen zu bleiben. Doch bisher war es unsere Tendenz, diesen Zugang für unser individuelles Selbst zu nutzen, für unsere eigene innere Reise, und nicht die größeren Implikationen zu sehen.
Wirkliche alchemistische Arbeit galt immer dem Wohl des Ganzen. Auf unserer inneren Reise, in unserem eigenen alchemistischen Prozess, bedeutet, für das Wohl des Ganzen zu arbeiten, die Dimension der Anima Mundi anzuerkennen. Das Licht, das wir in unseren eigenen Tiefen entdecken, ist ein Funke der Weltseele, und die Welt benötigt dieses Licht, um sich weiterzuentwickeln. Wenn wir diese Verbindung in unserem Bewusstsein und in unserer Vorstellung herstellen, beginnen wir das Gewebe des Lebens zu verändern. Die Alchemisten wussten um die Potenz dieses Funkens, dieses philosophischen Quecksilbers. Die selbe Substanz, die unser individuelles Selbst transformiert, ist der ursprüngliche welterschaffende Geist, das „universale und funkelnde Feuer im Licht der Natur, das den himmlischen Geist in sich trägt“. Wenn wir dies in uns selbst befreien, es aber nicht nur für uns, das heißt für unseren eigenen inneren Prozess, beanspruchen, schaffen wir bestimmte Verbindungen, durch die diese Energie in das Innerste des Lebens fließen kann. Wir arbeiten dann an dem alchemistischen Werk mit, die Anima Mundi zu befreien. Dies ist der erste Schritt dieser Arbeit.
Was bedeutet es wirklich, die Anima Mundi zu befreien? In unserem individuellen alchemistischen Opus erfahren wir, wie es sich auswirkt, wenn wir das Licht, die Energie und das schöpferische Potential freisetzen, das in uns liegt. Wir wissen, wie diese Befreiung unsere Sicht und Erfahrung des Lebens radikal verändern kann. Wir werden in eine andere Dimension unseres Selbst gebracht, und das Leben beginnt magisch Türen zu öffnen, die zuvor verschlossen oder verborgen gewesen sind. Natürlich sind diese Veränderungen nicht immer das, was wir wollen—sie erfüllen nicht unsere oberflächlichen Wünsche, aber sie haben einen tieferen Sinn und Zweck. Etwas in uns erwacht, und das Leben des Geistes beginnt. Die Alchemisten waren der Ansicht, dass der einzelne Mensch ein Mikrokosmos des Ganzen ist, und dass das, was für jeden von uns geschehen kann, auch für die Welt geschehen kann.
Sobald das Licht der Seele zurückkehrt, wird eine graue Welt voller Schufterei anfangen zu funkeln: Die vielfarbigen Qualitäten der Schöpfung werden dann sichtbar. Statt der endlosen Jagd nach Vergnügen ruft uns das Leben auf die Suche nach dem Sinn: Die Farben des Lebens sprechen zu uns und erzählen uns ihre Geschichte, singen uns ihr Lied. Die Musik des Lebens kehrt zurück, eine Musik, die die lebendige Schöpfung ist. Ein wirklicher Dialog zwischen unserem inneren Selbst und unserem äußeren Leben entfaltet sich, während wir unmittelbar am verborgenen Mysterium vom lebendig werdenden Leben teilhaben: Es wird in uns selbst und in der Welt lebendig. Im Licht der Seele lösen sich die Barrieren zwischen Innerem und Äußerem auf, und wir müssen nicht mehr im Materiellen graben für einen Anschein von Lebenssinn.
Das zur Anima Mundi zurückkehrende Licht der Seele wird uns aus dem Würgegriff des Materialismus befreien, weil es uns zu anderen Qualitäten im Leben erweckt, uns andere Träume gibt, denen wir folgen können. In diesem Licht werden wir das Leben anders wahrnehmen, wird eine andere Welt sichtbar werden. Wenn Materie tot ist und die Seele schläft, sind wir leicht durch die Attraktionen des Materialismus zu verführen: Wir sehen nichts anderes, das uns erfüllen könnte. Aber wir kennen das von unserer eigenen Reise, wie wir plötzlich für eine andere Wirklichkeit erwachen, die immer schon da war und trotzdem vor uns verborgen, eine Welt, die nicht dem Kaufen und Verkaufen angehört, sondern dem Mysterium der Seele. Dann kehrt ein Gefühl des Staunens und der Ehrfurcht zurück. Das Selbe kann der Welt geschehen. Wir sehnen uns danach, an einem Leben teilzuhaben, das multidimensional und voller Schönheit ist, statt nur unserem eigenen Vergnügen nachzugehen. Wer möchte nicht von der Lust zur Liebe zurückkehren? Das Licht der Seele ist der Geist in der Materie, der das Leben zum Tanzen bringt. Es erweckt uns zu der einfachen Freude an dem, was ist:
ich danke Dir Gott für diesen höchst erstaunlichen
tag: für die hüpfenden grünlichen geister der bäume
und einen blauen wahren traum von himmel; und für alles
was natürlich ist was unendlich ist was ja ist.
(ich der gestorben ist bin heute wieder lebendig,
und dies ist der geburtstag der sonne; dies ist der tag der geburt
von leben und von liebe und flügeln: und von dem fröhlichen
großartigen ereignis von uneingeschränkt erde.(19)
Dies ist die Welt, in die wir ursprünglich hineingeboren worden waren. Selbst unsere Straßen in den Städten und unsere Einkaufszentren sind auf eine Art lebendig, die uns jetzt noch verborgen ist. Die Schöpfung funkelt in so vielerlei Weise, obwohl ihr Farbspektrum zurzeit nur zum Teil sichtbar ist. Wir haben ein Gefängnis des Materialismus geschaffen, aber das ist nur eine Illusion. Wenn wir das Leben zu uns sprechen lassen, wird es uns zeigen, wie wir diese Tür aufschließen, diese Wände einreißen und diesen Alptraum auflösen können. Es gibt Kräfte im Leben, die mächtiger sind als unsere Konzerne und Politiker. Und diese Kräfte halten sich nicht an die Regeln, die wir geschaffen haben. Mit Gelächter und aufblitzendem Schabernack können sie unser Leben neu ordnen.
Im Augenblick schläft unsere Welt. Ihre magischen Kräfte ruhen größtenteils, sind aber vorhanden und warten darauf, für die Transformation unserer Welt gebraucht zu werden. Wir haben Wunder auf die Sicherheit von kleinen Ereignissen beschränkt, aber die ganze Welt ist wundervoll. Wir sprechen vielleicht vom ‚Das Wunder des Lebens’, packen dieses Wunder jedoch in den sicheren Rahmen unserer Erwartungen. Wir wagen es nicht, zu erkennen, dass ein wirkliches Wunder das Unerwartete ist, das Erwachen des Göttlichen im Leben. Wir versuchen vielleicht sogar, diese Dimension, die reine Freude und Licht ist, abzublocken, damit wir innerhalb der Grenzen unseres Egos und unserer Erwartungen bleiben. Aber das zu tun, bedeutet, die Göttlichkeit der Schöpfung zu verleugnen, zu verleugnen, dass da eine Intelligenz ist, die die Welt ständig den göttlichen Prinzipien entsprechend neu erschafft, die unser rationales Verstehen übersteigen.
Auf unserer individuellen inneren Reise bekommen wir allmählich Einblicke in das Wirken unserer Seele, sehen, wie sie dabei ist, unser äußeres Leben auf oft wundervolle Weise zu erschaffen, und gleichzeitig unser inneres Selbst neu ordnet. Wenn wir vom Ego abrücken und uns der Seele zuwenden, erkennen wir mehr von ihrer Macht und ihrer Bedeutung. Ihr Licht ist das ordnende Prinzip in unseren Leben; es kann aus den unterschiedlichsten Aspekten unserer Psyche Harmonie schaffen und das Mandala des Selbst ins Sein bringen. Durch das Wirken der Seele wird unser äußeres Leben nach und nach mehr mit unserem inneren Selbst in Balance gebracht. Das gilt genauso für die Welt. Die Anima Mundi ist das ordnende und kreative Prinzip in der Schöpfung. Ohne ihre Gegenwart erfahren wir nur die widerspenstigen Elemente unseres Egos, die Gier, die Unsicherheit, und die Machtdynamiken, die in unserer gegenwärtigen Landschaft so deutlich zutage treten. Ist ihr Licht erst erwacht, kann sie der Welt Harmonie und Gleichgewicht bringen. Diese einfache und radikale Wahrheit kannten die Alchemisten: Es ist das in der Materie verborgene Licht, das die Welt erlösen wird.
ANMERKUNGEN
(1) Stephan Hoeller, Gnosis: A Journal of Western Inner Traditions (Band 8, Sommer 1988).
(2) Platon : Timaios 30 -- 31 in Sämtliche Werke, Band 6. Hamburg 1987.
(3) Es wird gesagt, die Glasmacher des Mittelalters hätten von den Alchemisten gelernt, wie Glas verwendet werden kann, um Licht zu transformieren.
(4) David Fideler, The Soul of the Cosmos p.138. Richard Tarnas, The Passion of the Western Mind, p. 213. New York: Harmony Books, 1991.
(5) Giordano Bruno: Die Seele des Cosmos in Gesammelte Werke in 6 Bänden 1904-09.
(6) Alchemistischer Text, zit. V. C.G. Jung in Gesammelte Werke, 20 Bände Freiburg-Olten.
(7) C.G. Jung: Gesammelte Werke, Band 14, s.a.O.
(8) John Eberly, Al-Kima: The Mystical Islamic Essence of the Sacred Art of Alchemy. Hillsdale NY: Sophia Perennis. 2004.
(9) The Hermetic Museum 1:13 übers. von A.E.Waite, zit. in Edward Edinger: Der Weg der Psyche, S.14, deutsche Ausgabe München 1990. Sie auch Llewellyn Vaughan-Lee: Catching the Thread S.66 ff.
(10) Zit. in Edward Edinger a.a.O. S. 285 f. Hermes Trismegistos ist der „Stammvater“ der Alchemistischen Kunst. Der Legende nach ist die ursprüngliche Smaragdtafel von Alexander dem Großen im Grab des Hermes Trismegistos gefunden worden. „Sie ist der kryptische Inbegriff des alchemistischen opus, ein Rezept zur zweiten Erschaffung der Welt, des unus mundus."
(11) Gerard Manley Hopkins: (deutsche Ausgabe) Gedichte, Schriften, Briefe. Kösel-Verlag, München 1954.
(12) Ghalib, übers. von Jane Hirshfield: The Enlightened Heart, herausgeg. Von Stephen Mitchell, S. 105.
(13) C.G. Jung: Gesammelte Werke a.a.O.
(14) David Fideler: The Soul of the Cosmos, S. 100.
(15) http://en.wikipedia.org/wiki/The_Garden_of_Cyrus
(16) Paul Oskar Kristeller, The Philosophy of Marsilio Ficino, p. 120. (New York: Columbia University Press, 1943).
(17) Hermes Trismegistos: Tabula Smaragdina 4&5 in Alexander Roob: Alchemie und Mystik Taschen, Köln 1996.
(18) “Daher sollt ihr Leben, Charakter und geistige Eignung eines jeden, der in diese Kunst eingeweiht werden soll, sorgfältig erproben und untersuchen … aus The Hermetic Museum 2:12, übers. von A.E. Waite, zit. In E.Edinger a.a.O.
(19) E.E Cummings, Selected Poems 1923-1958, “i thank You God for most this amazing.”